Immunsystem – Mythen und Fakten II
Hier, liebe Leserinnen und Leser, setzen wir unseren Beitrag über das Immunsystem mit dem zweiten Teil fort. Wie versprochen, wird es hier vor allem um die zentrale Frage gehen, was es denn nun mit der überall herumspukenden „Stärkung des Immunsystems“ auf sich hat. Und noch einmal kommen wir zum Thema Impfen.
Nobody is perfect…
Das angeborene und das adaptive Immunsystem sind beide schon ziemlich cool, wie man heute zu sagen pflegt, aber sie sind nicht perfekt. Das wissen wir unter anderem einfach deshalb, weil trotz Immunsystem exogene (durch äußere Einflüsse verursachte) Krankheiten etwas Alltägliches sind. Viele Krankheitserreger sind „schlau“ – sie haben sich im Laufe von etwa einer Milliarde Jahren als Reaktion auf das Immunsystem anderer Organismen entwickelt und dabei eine Menge Tricks „gelernt“, um zu verhindern, dass sie vom menschlichen Immunsystem schon an der Tür abgewiesen oder später massakriert werden.
Das Influenza-Virus ist vielleicht der bekannteste dieser „Experten“. Sein Trick ist eine sehr schnelle Entwicklung, eine fast jährliche Mutation, um vorhandenen Antikörperinformationen im Körper ein Schnippchen zu schlagen. Was mal mehr und mal weniger klappt – das Immunsystem ist bei geringen Differenzen zwischen dem erwarteten und dem auftretenden Virus nach einer Impfung aber durchaus zu einer gewissen Abwehr in der Lage, was zumindest zu milderen Krankheitsverläufen führt. Nach neueren Forschung profitieren diejenigen, die sich über die Jahre gegen Influenza impfen ließen, in besonderem Maße: sie bauen sich eine Art „Antikörperbibliothek“ auf und verbessern damit ihre Chancen gegen mutierte Influenzaviren generell. Der Trick der „schnellen Mutation“ treibt die Impfstoffentwicklung in ein beständiges Hase-und-Igel-Spiel – wir kennen das. Sicher werden Sie jetzt besser verstehen, wo die Probleme beim Influenza-Impfstoff liegen, die Jahr für Jahr für mehr oder weniger sinnhafte Diskussionen sorgen.
Auf eine andere Weise in die Trickkiste greift z.B. das HPV- Virus, indem es sich tatsächlich in die menschliche DNA integriert. Echt gemein. Und „systemisch“, d.h. von der Ursache her, nicht behandelbar. Da hilft nur eine Impfung, die es glücklicherweise ja inzwischen gibt und die auch wir sehr empfehlen.
Mythen zum Immunsystem – ist was dran?
Wir haben nun eine Menge über das Immunsystem erfahren, das nicht wie ein Akku im Smartphone irgendwo sitzt. Wenn man es lokalisieren wollte, müsste man sagen, es ist systemisch – durchdringt also den Körper insgesamt. Es ist unglaublich komplex – es gibt eine Vielzahl von Zellen mit Immunabwehraufgaben, jede produziert an anderen Stellen, jede mit einer anderen Spezialisierung. Einige dieser Zellen produzieren im wahrsten Sinne des Wortes Millionen verschiedener Antikörper, und zwar ständig.
Nun kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Gibt es irgendeine physiologisch plausible Methode, um dieses ganze System oder auch nur einen kleinen Teil davon zu verstärken oder zu verbessern? Generell ist das Immunsystem ein on/off-Netzwerk. Entweder funktioniert es oder nicht. Die Bedingungen, unter denen es nicht perfekt funktioniert, können wir ziemlich genau beschreiben.
- Es gibt einige chronische Zustände, wie Stress und Unterernährung (nicht so etwas wie zu wenig Zitrusfrüchte oder Bananen, sondern große, pathologische Kalorien- und Mikronährstoffdefizite), die die Leistungsfähigkeit das Immunsystems beeinträchtigen können.
- Es gibt manche chronische Krankheiten, die einen Einfluss auf die Qualität der Immunantwort haben können, Diabetes beispielsweise.
- Manche Menschen werden mit geschwächtem Immunsystem geboren. Andere können durch bestimmte Krankheiten (HIV/AIDS ist am bekanntesten) eine Immunschwäche bekommen. Leider scheint die Zahl solcher Menschen in der Gesamtbevölkerung zuzunehmen.
- Auch ist wohl allgemein bekannt, dass auch einige medizinische Behandlungen, wie Chemotherapie oder immunsuppressive Therapien, das Immunsystem schwächen oder sogar zerstören können. Das tut man natürlich nur unter einer sehr sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung, in der Regel, wenn es keine Alternativen gibt und es buchstäblich um Leben und Tod geht.
- Man kann nicht generell sagen, dass jede -eher banale- Infektion das Immunsystem schwächt. Ob eine Erkrankung das Immunsystem beeinträchtigt, ist sehr stark von deren Schwere abhängig. Man weiß heute, dass z.B. nach einer Masernerkrankung (nochmal: das ist eine schwere Krankheit!) das Immunsystem mindestens ein Jahr lang „auf dem Zahnfleisch“ geht und es u.U. noch länger dauern kann – bis zu zehn Jahre! – , bis der Zustand eines gesunden Menschen wieder erreicht ist. Außerdem kann speziell eine Masernerkrankung zu einer „Immunamnesie“ führen: das Immunsystem „vergisst“ schon gespeicherte Antigen-Informationen anderer Krankheitserreger. Was das für Folgeinfektionen bedeutet, kann man sich ausmalen.
Aber ganz grundsätzlich gilt: Fast jeder Mensch hat ein perfektes und hochwirksames Immunsystem – es gibt keine Möglichkeit, es zu „tunen“. Die moderne Forschung verfügt inzwischen über die eine oder andere Möglichkeit, ein Immunsystem zu „modulieren“, das lässt sich aber nicht mit dem Schlagwort der „Stärkung“ vergleichen und ist derzeit noch in einem Stadium, in dem es noch keine klinische (praktische) Relevanz hat.
Es gibt keine Evidenz dafür, dass ein normal funktionierendes Immunsystem „gestärkt“ werden kann. Und mit Evidenz sind dabei qualitativ hochwertige randomisierte klinische oder epidemiologische Studien gemeint, die in qualitativ hochwertigen, von Fachleuten begutachteten Zeitschriften veröffentlicht werden. Niemand hat jemals eine so von außen hervorgerufene „Stärkung des Immunsystems“ irgendwie nachweisen, messen oder sonst quantifizieren können.
Es gibt natürlich manche Möglichkeiten, Krankheiten vorzubeugen. Aber das hat durchweg nichts mit einer „Stärkung des Immunsystems“ zu tun. Im Verlaufe einer Krankheit sollte man vor allem darauf abzielen, das System nicht unnötig weiter zu schwächen, sondern insbesondere durch Ruhe und den Verzicht auf Anstrengungen ihm die Gelegenheit geben, ungestört seine Arbeit zu machen. Sich dabei zusätzlich etwas Gutes zu tun, im Sinne von Well-Being, ist sicherlich auch nützlich. Vor allem, wenn eine ursächliche Therapie nicht möglich ist – bei Masern beispielsweise.
Zu viel des Guten
Wenn wir wirklich unser Immunsystem stärken könnten – wäre das überhaupt eine gute Idee? Lässt sich -was für eine solche Stärkung Voraussetzung wäre- womöglich eine „Dosis“ festlegen, die individuell für so etwas nötig ist?
Nun, es gibt tatsächlich gute Gründe, warum wir uns nicht unbedingt um ein (zu) starkes Immunsystem reißen sollten. So sind zum Beispiel überaktive Immunsysteme für allergische Erkrankungen wie Asthma und Ekzeme verantwortlich. Und es gibt eine Art von entgleister Immunantwort, die als „Zytokinsturm“ bekannt ist, der für die hohe Sterblichkeit bei schweren Grippepandemien verantwortlich sein kann, ebenso ist er ein Risikofaktor beim Verlauf von Blutvergiftungen (Sepsis) – und ist aktuell im Zusammenhang mit der Covid-19-Erkrankung, wo er eine gefürchtete Komplikation bei schweren Verläufen ist, zu einer gewissen „Popularität“ gelangt.
Entzündungen sind normalerweise eine gesunde Reaktion auf Verletzungen oder die Invasion von Krankheitserregern, aber bei sogenannten Autoimmunerkrankungen hat der Entzündungsprozess einen eigenen Krankheitswert. Dabei greift ein überaktives und fehlgeleitetes Immunsystem die Zellen des eigenen Wirtskörpers an. So etwas verursacht dann „echte“ Autoimmunkrankheiten wie Arthritis und Typ-1-Diabetes, aber auch noch schwerere, glücklicherweise seltene Krankheitsbilder (z.B. Multiple Sklerose oder die Hashimoto-Thyreoiditis). Diese können dann unter Umständen eine gewollte Schwächung des Immunsystems nötig machen („Immunsuppressiva„).
Also, nein, es ist wirklich keine gute Idee, „ins Blaue hinein“ Ihr Immunsystem zu „stärken“, selbst wenn Sie es könnten (aber Sie können es wirklich nicht). Die praktische Medizin ist viel eher mit dem Problem konfrontiert, mit überaktiven Immunsystemen fertigzuwerden.
Impfstoffe und das Immunsystem
Was wir also eigentlich brauchen, ist eine Möglichkeit, Immunität gegen Krankheiten zu erlangen, ohne dass der Erreger eine manifeste Krankheit verursacht. Ihn also sozusagen „in flagranti“ zu erwischen, bevor er seine böse Tat ausführen kann. Gibt uns unser Verständnis des Immunsystems dafür vielleicht einen „Trick“ an die Hand?
Ja, tatsächlich. Dieser „Trick“ ist die Impfung. Bemerkenswert ist, dass trotz der Komplexität des angeborenen und adaptiven Immunsystems Impfungen zu den einfachsten medizinischen Verfahren überhaupt gehören – wir nehmen bekannte Antigene (heutzutage in einer unglaublichen Perfektion aufbereitet) und injizieren sie in den Körper, aber so, dass sie nicht infektiös werden können. Den Rest erledigt – das Immunsystem. Und mal zu Ende gedacht – ist das nicht ein „natürliches“ Verfahren par excellence, das sich natürliche Körperfunktionen ganz direkt zunutze macht?
Das adaptive Immunsystem des Körpers erkennt diese antigenen Partikel des Erregers und produziert eine Immunantwort, als ob es eine reale Bedrohung gäbe. Dann bleiben die Gedächtniszellen in Bereitschaft, um nachfolgende Infektionen mit dem gleichen Erreger anzugreifen. Jede zukünftige Infektion, die vom Immunsystem gestoppt wird, erhöht weiter die Qualität und Geschwindigkeit der Immunantwort – es lernt ständig dazu.
Dank einer Schutzimpfung kann das adaptive Immunsystem schnell auf einen Erreger reagieren, bevor der Erreger eine lang anhaltende schädliche Wirkung auf den Körper hat oder infektiös wird und sich auf andere ausbreitet. Niemand behauptet, dass Impfstoffe zu 100 % wirksam sind, aber solange die überwiegende Mehrheit der Menschen gegen eine Krankheit immun ist, hat sie wenig Chancen, sich zu verbreiten, so dass auch und gerade diejenigen profitieren, die nicht geimpft werden können oder tatsächlich ein geschwächtes Immunsystem haben.
So sieht’s aus. Das ist der einzige, der wissenschaftlich begründete Weg, „trickreich“ eine Krankheitsabwehr aufzubauen, ohne krank werden zu müssen: Die Impfung. Ohne „Schwächung“ des Immunsystems, im Gegenteil, wir stärken es damit.
Und in aller Deutlichkeit sei zum Schluss darauf hingewiesen, dass das Durchmachen einer manifesten Erkrankung keine „Alternative“ zu einer Impfung ist. Wer so einen Unsinn redet, ist weder über die Risiken und Komplikationsraten von Impfungen einerseits und Krankheiten andererseits informiert noch hat er den immunstimulierenden Mechanismus der Impfung verstanden. Über andere Motivlagen wollen wir hier nicht spekulieren.
Fazit
Nachdem wir nun einige Grundlagen zum Immunsystem kennengelernt haben, sollte es leichter fallen, über die vielfältigen Anpreisungen zur „Stärkung des Immunsystems“ hinwegzusehen. Wie sollten Vitamingaben oder Echinacea-Pillen die Funktionalität eines derart komplexen Systems irgendwie beeinflussen können? Was sollen diese Mittelchen den Zellen des angeborenen und des erworbenen Systems denn wohl „mitteilen“, auf dass sie gestärkt oder vermehrt würden? Das ist schlicht und einfach nicht möglich. Und Stärkung des Immunsystems durch Homöopathie? Eine doppelte Absurdität. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Verbreitung.
Es kostet hunderte von Millionen Euro und das Zusammenwirken vieler Wissenschaftler, um eine biochemische Wirkung von Medikamenten zu erforschen, zu belegen und zu erklären. Dabei geht es oft – wenn man das mal mit dem hochkomplexen Immunsystem vergleicht – „nur“ um zelluläre rezeptive Mechanismen. Und da treten die Vertreiber von Vitaminen, Nahrungsergänzungsmitteln und Co., von den Homöopathen ganz zu schweigen, mit dem Anspruch an, ihre Mittelchen hätten eine Wirkung auf „das Immunsystem“? Das ist Unsinn.
Zuletzt wollen wir noch die Absurdität erwähnen, dass gern mit Erfolgen von immunstimulierenden Mitteln unter Laborbedingungen geworben wird. Das ist lächerlich. Isolierte Zellen in einer Petrischale zu irgendeiner Reaktion zu bringen ist eine Sache, die Gesamtfunktion des Immunsystems eine ganz andere. Wir hatten schon einmal ein schönes Beispiel dazu auf unserer Webseite gebracht und dabei angemerkt, dass es sicher eine nobelpreiswürdige Sache sei, „das Immunsystem“ in eine Petrischale zu verfrachten…
Eine gesunde Lebensführung hat natürlich dadurch, dass sie generell die Lebensfunktionen anregt und schützt, einen Einfluss auf das Immunsystem. Aber das ist eben ein endogener (eine Sache des gesamten Organismus selbst) und kein exogener (von außen beeinflussbarer) Vorgang.
Bleiben Sie gesund – auf zum Spaziergang!
Ihr Susannchen-Team
TL;DR – Too long, didn’t read
- Nein, wir können das Immunsystem nicht mit einer Handvoll Nahrungsergänzungsmittel, Bio-Lebensmittel, Vitaminen oder Kräuterbonbons stärken. Mit homöopathischen Mitteln erst recht nicht, die Zellen des Immunsystems reagieren nicht auf Zucker…
- In aller Regel ist es ohnehin eine ziemlich schlechte Idee, das Immunsystem stärken zu wollen. In der Medizin ist es weitaus häufiger, dass gefährlichen Überfunktionen oder Entgleisungen entgegengewirkt werden muss.
- Wer das Immunsystem nutzen und unterstützen möchte, der möge sich impfen lassen. Impfstoffe bringen unser Immunsystem dazu, sich auf die Abwehr von Erkrankungen einzustellen, ohne dass dazu die Krankheit „durchgemacht“ werden muss. Dann ist es bereit, die Krankheit zu bekämpfen, wenn die Erreger einmal tatsächlich eindringen – und zwar noch bevor sich Krankheitssymptome zeigen.
Machen Sie sich also keine Sorgen um ihr Immunsystem. In fast jedem gesunden Menschen läuft das Immunsystem nahezu perfekt, ohne dass Sie sich Gedanken darüber machen müssen.
Bildnachweise:
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Sceptical raptor
Zum ersten Teil dieses Beitrages geht es hier.
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