Immunsystem – Mythen und Fakten I
Im Zusammenhang mit dem Impfen haben wir uns auf unserer Webseite schon einmal mit dem Immunsystem beschäftigt. Nun ist der Begriff „Immunsystem“ ja einer, der auch und gerade im Zusammenhang mit der alternativ- und komplementärmedizinischen Werbung dem Verbraucher geradezu um die Ohren fliegt. Mit dem – vielfach erreichten – Ziel, entsprechende Mittelchen für die ultimative Krankheitsvorbeugung per „Stärkung des Immunsystems“ an den Mann zu bringen. Ein ganzer Zweig der Komplementärmedizin beruht im Wesentlichen auf den „Mythen über das Immunsystem“: Die orthomolekulare Medizin, von Prof. David Gorski, einem der weltweit wichtigsten Medizinblogger, kurz und knapp als „Quackery“ bezeichnet.
Nun, die Mittelchen und Methoden sollen heute gar nicht vorrangig unser Thema sein. Es wird sich im Laufe des Artikels ganz von selbst ergeben, was davon zu halten ist. Wir möchten vielmehr ein wenig mehr fundierte Information zum Immunsystem selbst und zu den „Mythen“ darüber anbieten. Angeregt zu diesem Beitrag wurden wir durch viele Fragen, die uns immer wieder zu diesem Thema begegnet sind. Wir bedanken uns sehr bei den Kollegen (wenn wir das in aller Bescheidenheit so sagen dürfen) von den Wissenschaftsblogs Skeptical Raptor und Science or Not, die uns viele Anregungen und Informationen für den nachfolgenden Text gegeben haben.
Immunsystem – weiß doch jeder Bescheid! Wirklich?
Für medizinische Fachleute ist es frustrierend, wenn behauptet wird, dieses oder jenes Nahrungs- oder Nahrungsergänzungsmittel sei wichtig für eine Stärkung des Immunsystems. Solcherart Werbung ist überall präsent. Die pseudomedizinische Szene quillt davon geradezu über – diese „Informationen“ sind aber durchweg falsch, oft schädlich und manchmal gar gefährlich. Gefährlich? Wir sollten nicht vergessen, dass mit Mittelchen zur „Stärkung des Immunsystems“ nicht nur im Alltag – unwirksam, aber meist harmlos – über den Ladentisch gehandelt wird, sondern ganze Therapiekonzepte für manifeste Krankheiten auf dieser unhaltbaren Basis aufbauen, ja, dies oft der „therapeutische Kern“ sogenannter alternativer Krebstherapien ist. Ein prominentes Opfer dessen war die bekannte US-Schauspielerin Farrah Fawcett, die unter anderem mit „immunstärkenden Vitaminmedikamenten“ zu Tode behandelt worden war. Übrigens unter anderem in einer deutschen „alternativen Krebsklinik“. Es fehlt nicht einmal an unzweideutigen Aussagen von ärztlicher (!) Seite, Homöopathie sei zur Krebsbehandlung geeignet, weil sie „das Immunsystem stärke“ (1). Unfassbar.
Diese Mythen und die von ihnen beeinflusste allgemeine Ansicht übersehen – oder ignorieren – eine grundlegende physiologische Tatsache: Das Immunsystem ist ein komplexes, miteinander verbundenes Netzwerk von Organen, Zellen und Molekülen und biochemischen Vorgängen, das jeden Tag, jede Stunde die Invasion des Körpers durch Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Krankheitserregern und anderen Antigenen unterbindet.
Und egal, wie sehr versucht wird, dem Kunden „das Immunsystem“ als etwas Greifbares, einfach zu Beeinflussendes darzustellen und damit die Komplexität des Immunsystems herunterzuspielen, es ändert nichts an den Tatsachen. Man kann noch so oft behaupten, dass das Schlucken von ein paar Echinacea-Tabletten das Immunsystem stärkt, um Erkältungen vorzubeugen, davon wird diese Aussage nicht richtiger. Eine genaue Beschreibung des Immunsystems in all seinen Komponenten und Funktionen und deren Zusammenspiel in seiner ganzen Komplexität ist allenfalls etwas für hochspezialisierte Wissenschaftler.
Die Wissenschaft des Immunsystems
Zum Ignorieren bis Leugnen der Komplexität des Immunsystems kommt eine weitere Suggestion der Verkaufsstrategen: Sie versuchen, das Immunsystem als ein schwaches, kaum funktionsfähiges und hilfsbedürftiges Etwas zu charakterisieren – das ist es aber keineswegs.
Tatsächlich ist das Immunsystem ein riesiges, komplexes, zusammenhängendes System von Biomolekülen, Zellen, Geweben und Organen, die hocheffektiv zusammenarbeiten. Und es ist ziemlich belastbar. Wenn das Immunsystem solch ein Schwächling wäre, wie die Werbung für einschlägige Mittelchen den Eindruck zu erwecken versucht, hätten uns Krankheitserreger noch vor dem Ende des fünften Lebensjahres umgebracht.
Wenn also jemand sagt: „Das stärkt Ihr Immunsystem“, dann muss Ihre erste Frage lauten: „Welches von den vielen Bestandteilen des Immunsystems wird bitte genau gestärkt?“
Ihre zweite Frage sollte lauten: „Wo ist der Beweis für Ihre – außergewöhnliche – Behauptung?“ Womit unter „Beweis“ nur Belege nach den Prinzipien evidenzbasierter Wissenschaft zu verstehen sind.
Die Vorstellung, dass das Immunsystem eine vereinfachte, fassbare Einheit innerhalb des Körpers ist, dessen „Stärke“ und „Funktionalität“ man durch die orale Einnahme von X oder Y erhöhen könnte, ist einfach falsch.
Teile des Immunsystems
Das „angeborene“ Immunsystem
Dieser Teil des Immunsystems verfügt über die Fähigkeit, Fremdmaterial zu erkennen und es dann – zunächst noch ohne eine eigentliche biochemische Immunreaktion – zu eliminieren. Es ist die schnelle und erste allgemeine Reaktion des Körpers auf angreifende Krankheitserreger.
Die „angeborene“ Funktionalität versucht als erstes, z.B. durch die Haut, Eindringlingen den Weg zum Blutkreislauf zu versperren. Wenn dies nicht ganz gelingt, verzögert es die Invasion, damit das langsamere, aber effektivere und spezialisiertere „adaptive“ (sich anpassende) Immunsystem seine Reaktion auf die Krankheitserreger aktivieren kann.
Viele einzelne Begriffe, die uns gleich begegnen werden, haben Sie sicher schon einmal gehört – bald werden sie diese auch einordnen können.
Das angeborene System besteht aus:
Anatomischen Barrieren – Eines der besten Beispiele ist die Haut selbst, die für Krankheitserreger undurchlässig ist und Abwehrkräfte wie eine feste Mauer bietet. Auch Dinge wie Nasenhaare, Schleimhäute und mehr gehören dazu.
Entzündungsreaktion – Dies erzeugt die bekannten Entzündungssymptome wie Fieber, Schwellung, insbesondere erhöhte Durchblutung, bewirkt damit Reparatur von beschädigtem Gewebe und Entfernung von Fremd- und abgestorbenem Gewebe.
Komplement-System – Dieses System ist eine Gruppe von Biochemikalien, die von der Leber produziert werden und die die Fähigkeit von Antikörpern und bestimmten Zellen, Krankheitserreger aus dem Organismus zu entfernen, unterstützen oder „ergänzen“. Es ist ein unveränderlicher, nicht anpassungsfähiger Teil des Immunsystems, kann aber vom adaptiven System (gleich mehr dazu) aktiviert werden.
Zellen – Die verschiedenen Arten weißer Blutkörperchen:
Mastzellen – Eine Gruppe von Zellen, die die Entzündungsreaktion vermitteln. Obwohl sie oft mit Allergien in Verbindung gebracht werden, sind sie ein zentraler Teil der Immunantwort.
Phagozyten – die bekannten „Fresszellen“, die auch beim normalen Zellerneuerungsvorgang des Körpers als „Abfallbeseitiger“ eine Rolle spielen.
Makrophagen – Große phagozytische Zellen, die sehr effektiv funktionieren. Sie töten Eindringlinge durch die Freisetzung von freien Radikalen (Sauerstoffverbindungen). Was nebenbei zeigt, dass die „freien Radikalen“ keineswegs nur die bösen Schädlinge sind, als die sie in der Werbung für irgendwelche Mittelchen gern hingestellt werden.
Neutrophile/Eosinophile/Basophile – Zuständig für die „erste Immunantwort“ an der Entzündungsstelle, die „schnelle Eingreiftruppe“.
Natürliche Killerzellen – Diese Zellen erkennen körpereigene Zellen, die mit Viren infiziert oder funktional gestört sind. Sie lösen den kontrollierten Zelltod (Apoptose) aus, um die Ausbreitung der infizierten oder potenziell krebsartigen Zellen zu stoppen.
Dendritische Zellen und Gamma/Delta-T-Zellen – Diese sind die „Brücke“ zwischen dem angeborenen und dem adaptiven System und haben eine spezielle Aufgabe: Sie „ernten“ antigene Proteine von geschädigten Krankheitserregern und stellen sie den T-Zellen zur Verfügung, die damit die Krankheitserreger finden und angreifen können.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – naja, nicht immer… Hier eine grob systematische Darstellung der Abläufe im angeborenen System, links beginnend mit dem „Eintritt“ eines pathogenen Erregers. Keine Angst – das Bild soll nur verdeutlichen, wie komplex die ganze Sache ist (klicken für ein großes Bild).
Das adaptive Immunsystem
Von der „Brücke“, die die dendritischen Zellen zwischen den beiden Teilen des Immunsystems bilden, haben wir im vorigen Abschnitt schon gehört. Sie aktivieren das adaptive (erworbene) Immunsystem des Körpers, das aus hochspezialisierten Zellen und Prozessen besteht, die das Wachstum von Krankheitserregern verhindern.
Bei der erworbenen Immunität werden krankheitsspezifische Rezeptoren während der gesamten Lebenszeit des Organismus (allerdings mit zunehmendem Alter abnehmend) „adaptiert“, sozusagen „gesammelt“ (die wenigen pathogenspezifischen Rezeptoren beim angeborenen System sind bereits genetisch kodiert).
Antikörper, die von B-Lymphozytenzellen produziert werden, sind die Hauptwaffe des Immunsystems gegen Krankheitserreger. Die Reaktion ist weitaus intensiver als die angeborene Immunität. Hat einmal eine Sensibilisierung für ein Antigen (das Antigen ist die Information, die der eindringende Krankheitserreger „mitbringt“) stattgefunden, ist das adaptive System häufig schon aktiv, noch bevor sich Symptome einer Krankheit zeigen.
Und hier sind wir an einem wichtigen Punkt: Nämlich da, wo Impfungen ansetzen. Sie bringen das Antigen des Erregers in das adaptive Immunsystem ein, so dass es diese pathogenspezifischen Rezeptoren bilden und so schnell und effizient auf einen Angriff eines Erregers reagieren kann, lange bevor er den Wirt schädigt. Man fügt durch die Impfung den abertausenden von spezifischen Antikörpern, die adaptiv vom Körper laufend selbst gebildet werden, einige spezifische hinzu – nämlich solche, die der Körper wegen der Schwere der Erkrankungen entweder nicht oder nur unter großen Anstrengungen bilden kann. Hier zeigt sich auch, dass eine „Überforderung“ des Organismus (auch des kindlichen) durch Impfungen, auch Mehrfachimpfungen, ebenfalls ein Mythos ist. Auf die paar per Impfung eingebrachten Antigene kommt es bei der ständigen Abwehr von -zig aus der Umwelt stammenden Angreifern wirklich nicht mehr an. Es ist wie bei einer Briefmarkensammlung, dem man fehlende Stücke hinzufügt – und damit das Album (das Immunsystem) ja nicht „überfordert“ oder „kaputtmacht“.
Es gibt drei Arten von Zellen, die an der adaptiven Immunantwort beteiligt sind:
T – Lymphozyten (auch bekannt als T-Zelle) – Deren Hauptaufgabe ist es, virusinfizierte Zellen zu erkennen und die sogenannte Apoptose auszulösen, der die Zelle und ihre virale Kontamination zerstört. Da sich Viren nur innerhalb der Zellen vermehren, indem sie den Herstellungsprozess der Zelle kapern, tötet diese Apoptose das Virus mit der Wirtszelle und Phagozyten (Fresszellen) stürzen sich auf die Zelltrümmer.
B – Lymphozyten – Die Hauptaufgabe dieser Zellen besteht darin, humorale (d.h. ans Blut abgegebene, frei bewegliche) Antikörper zu produzieren, die Krankheitserreger erkennen und für die Zerstörung durch andere Zellen markieren. Dieser Prozess erfolgt durch Aktivierung des Komplementsystems und dadurch, dass die Erreger „klebrig“ werden. Dies führt dazu, dass sie sich verklumpen und leichter durch T-Zellen zu töten sind.
Gedächtniszellen – Nachdem eine Infektion vorbei ist (und die meisten beteiligten T-Zellen und B-Zellen abgestorben sind), bleiben einige wenige im Umlauf, um sich an die Antigene der Krankheitserreger zu erinnern. Bei zukünftigen Infektionen werden diese schnell aktiviert, um eine humorale Reaktion (sofortige Ausschüttung der Antikörper in den Blutkreislauf) zu erzeugen, die neue Infektionen schnell bekämpft, noch bevor sie Symptome hervorrufen. Es gibt zwei Arten dieser Zellen: Gedächtnis-B-Zellen, die die Antikörper produzieren, die die Krankheitserreger erkennen, und Gedächtnis-T-Zellen, die sich an die viralen Antigene erinnern, die die Zellen infizieren.
Und es gibt sogar noch mehr. Bei Säuglingen gibt es eine Version des Immunsystems, die passive Immunität genannt wird. Bestimmte Antikörperklassen können die Plazentaschranke passieren und können auch durch die Milch, insbesondere das Kolostrum (Erstmilch), aufgenommen werden. Diese geben dem Neugeborenen – zeitlich begrenzt! – den gleichen Schutzumfang wie der Mutter.
Aber Achtung! Dies oft als „Nestschutz“ bezeichnete Phänomen darf man nicht überschätzen, vor allem darf man damit nicht den Verzicht auf eine Impfung begründen. Das Immunsystem des Babys entwickelt nämlich keine eigene adaptive Immunantwort aus diesen Antikörpern und muss mit all den Millionen von Antigenen, mit denen es täglich -schon beim Atmen- in Berührung kommt, sein eigenes adaptives Immunsystem ausbilden. Oder eben durch das Impfen. Aber bitte nicht durch vermeidbare, impfpräventable Krankheiten.
Viel Wissenschaft, in der Tat. Wir sind aber sicher, dass es weder uninteressant noch unverständlich ist, was wir Ihnen hier anbieten. Es ist aber aus der Sicht eines auf das Immunsystem spezialisierten Forschers nur ein leichtes Kratzen an der Oberfläche. Aber das soll uns ja durchaus genügen!
TL;DR – Too long, didn’t read
- Das Immunsystem ist ein äußerst komplexes Zusammenspiel von Organen, Zellen, Proteinen, anderen Biochemikalien und Geweben. Man kann es nicht einfach „irgendwo“ lokalisieren wie ein Organ.
- Es gibt einen „angeborenen“ Teil des Immunsystems, der von den äußeren Barrieren des Körpers wie der Haut, grundlegenden Reaktionen wie der „Entzündung“ bis zu den Zellarten der weißen Blutkörperchen reicht.
- Der andere Teil des Immunsystems wird im Laufe des Lebens „erworben“. Er ist ein sehr viel spezialisierteres System als der angeborene Teil, kann spezifisch auf eindringende Erreger reagieren und verfügt über die Möglichkeit, Informationen über einmal erkannte Erreger und die dazu notwendige passende Antikörperproduktion zu speichern.
- Das Immunsystem funktioniert durchweg gut als Ergebnis von Hunderten Millionen von Jahren Evolution. Prinzipiell ist es ein on-off-Netzwerk, das eben insgesamt funktioniert oder nicht (was fatal ist). Nur bestimmte chronische Erkrankungen oder massive Unterernährung können dazu führen, dass seine Funktion eingeschränkt ist.
(1) Auszugsweises Zitat: „Contrary to chemotherapy and radiation, we offer a therapy with homeopathy that supports the patient’s immune system.“
In unserem zweiten Teil wollen wir stärker zum Ausgangsproblem kommen und behandeln, wo und warum das Immunsystem nicht perfekt ist, ob man das Immunsystem denn nun „stärken“ kann – und ob man das überhaupt tun sollte. Zudem werden ein paar weitere Worte zum Impfen unsere Betrachtung abschließen.
Bildnachweise:
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Architha Srinivasan – Cambridge University
Zum zweiten Teil dieses Beitrages geht es hier.
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