Wer heilt, hat Recht! – Wirklich?
Wer heilt, hat Recht – das „Argument“ schlechthin in der Diskussion um Homöopathie und Co. Und keines, das häufiger von den Skeptikern erklärt und widerlegt wird. Warum ist das so und was steckt dahinter?
Wenn man die Aussage wörtlich nimmt, ist ja soweit alles in Ordnung. Ich nehme meine Globuli (oder etwas anderes, gehe beispielsweise zur Akupunktur oder zur Bioresonanz-Behandlung) – und eine Weile später sind meine Beschwerden besser oder gar weg. Wunderbar! Wenn das kein Beweis ist…
Nein, ist es nicht, ganz und gar nicht. Denn die entscheidende Frage, die allein den „Wer heilt, hat Recht“-Spruch begründen könnte, die fehlt: Steht wirklich fest, dass zwischen der Globulieinnahme (der Akupunktur, der Bioresonanz-Behandlung) und der Besserung der Beschwerden ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang besteht? Das ist die Frage, die die wissenschaftliche Herangehensweise an die Medizin sich stellt und zu beantworten versucht. Das ist aber genau die Frage, die sich die Verteidiger pseudomedizinischer, mithin als solche wirkungsloser Methoden und Mittel eben nicht stellen. Hätte die nicht jemand einmal am Anfang der wissenschaftlichen Medizin gestellt, wären wir noch auf dem Stand der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Bei Vermutungen und Herumraten.
Der menschliche Geist ist sehr, sehr schnell dabei, Zusammenhänge herzustellen und anzunehmen. In unserem Falle ist das auch so: Man stellt eine Wenn-Dann-Beziehung her. Man ist mental ja auch konditioniert darauf, eine Wirkung der extra wegen der Beschwerden wahrgenommenen „Behandlung“ zu erwarten. Aber es ist eine klassische Form des Fehlschlusses, wenn dies geschieht: Bekannt unter der Bezeichnung „post hoc ergo propter hoc“-Fehlschluss. Das bedeutet etwa „danach geschehen, also deswegen geschehen“. Der Philosoph und Forscher David Hume, der Kant stark beeinflusst hat, hatte als erster das Phänomen dieses Fehlschlusses beschrieben und es als „im Menschlichen beinahe unvermeidbar“ bezeichnet. Dies gehört zu den wichtigen Erkenntnissen aus den vielen Jahrhunderten, in denen sich Menschen – zum Glück – gefragt haben: Was können wir überhaupt wissen – und was nicht?
Aber ich HABE doch etwas getan, mögen Sie vielleicht einwenden. Das MUSS doch mit der Besserung zu tun haben – was denn sonst?
Sie müssen sich vielleicht erst an den Gedanken gewöhnen, aber es gibt weitaus mehr Dinge, die für die Besserung verantwortlich sein können, als eine Wahrscheinlichkeit, diese habe mit einer pseudomedizinischen Behandlung zu tun.
Zunächst ist es ja ganz einfach so, dass bei sehr, sehr vielen Beschwerden, die ihren gleichen -vermutlich sogar gleichzeitig auf der ganzen Welt- Menschen die gleiche Erfahrung eines Rückganges oder gar eines Verschwindens ihrer Beschwerden machen, ohne dass sie irgendeine Behandlung in Anspruch genommen haben. Kopf- und Rückenschmerzen verschwinden, der blaue Fleck löst sich ziemlich plötzlich auf, Fieber geht zurück… Das Gleiche, was Sie nach Ihrer Behandlung erlebt haben, geschieht also auch ganz ohne… Haben Sie das schon einmal bedacht?
Es gibt nur wenige Möglichkeiten für das, was nach einer „Behandlung“ passieren kann:
Man hat etwas genommen und es geht einem besser.
Man hat etwas genommen und es geht einem nicht besser (evtl. schlechter).
Mah hat nichts genommen und es geht einem besser.
Man hat nichts genommen und es geht einem nicht besser (evtl. schlechter).
Was heißt das für unser Thema? Nun, sehr einfach – und sehr logisch. Die Aussage „Wer heilt hat Recht“ hat den gleichen Aussagewert wie „Ich zähle mich zur ersten Kategorie“. Mehr nicht! Solange ich nicht von möglichst vielen Menschen weiß, die in einer vergleichbaren Situation sind/ waren, zu welcher Gruppe diese gehören, ist jede weitere Schlussfolgerung inhaltsleer.
Genau deswegen versuchen auch klinische Studien herauszufinden, ob an einem „Wer heilt hat Recht“ im Einzelfall wirklich etwas dran sind. Dazu gehören grob gesagt zwei Dinge: eine ausreichende Menge von „Einzelerfahrungen“, um zu einer tragfähigen Aussage zu kommen und eine ausgefeilte und sicher anwendbare Methodik, die möglichst alle anderen Einflüsse, die zu einer Veränderung im Zustand während bzw. nach einer Behandlung führten können, „herausrechnet“.
Man könnte also sagen, dass viele „Heiler“ ihren Ruf nur darauf gründen, dass sie zufällig gerade in der Nähe dessen waren, dem es besser geht – mehr nicht… Abwarten wird als ursächliche „Heilung“ getarnt.
Darüber hinaus gibt es noch ein ganzes Bündel von Ursachen, die zur Besserung oder Linderung beitragen. Man nennt diese in ihrer Gesamtheit „Kontexteffekte“. Der Placebo-Effekt ist nur einer davon:
- Konditionierung: Die Behandlung hat früher schon „geholfen“ / gutgetan. Die Erwartung, dass es wieder so sein möge, beeinflusst das, was später geschieht, ganz erheblich.
- Regression zur Mitte: Der Körper hält extreme Zustände nicht lange aufrecht. In den allermeisten Fällen ist es nur eine Frage der Zeit, bis er Beschwerdebilder wieder auf ein Mittelmaß „herunterregelt“.
- Selbstheilungskräfte: Bis zu einem gewissen Grad ist der Körper durchaus in der Lage, mit Krankheiten und Beschwerden fertig zu werden. Das ist eine durch Evolution erworbene Fähigkeit – wenn es die nicht gäbe, wären wir vermutlich schon ausgestorben. Nur – eben bis zu einem gewissen Grade. Wo die Selbstheilungskräfte enden, enden auch die scheinbaren „Wirkungen“ von pseudomedizinischen Behandlungen. (Was viele Homöopathen wohl wissen, aber daraus auch noch ein Positivum machen, indem sie betonen, die „guten“ Homöopathen wüssten schon, wann sie den Patienten zum Arzt schicken müssten – ein „Qualitätsmerkmal“, wirklich?)
- Placebo: Jede Behandlung, jede Zuwendung erzeugt im Patienten die positive Erwartung „Mir wird geholfen werden“, und zwar zum Teil sogar auf messbarer körperlicher Ebene. Mehr zu Placebo bei uns gibt es hier und hier.
… und das ist noch nicht alles.
Wir sehen jetzt (hoffentlich) klar:
Nicht wer heilt, hat Recht, sondern es hat derjenige Recht, der den Zusammenhang zwischen seiner Behandlung und der Besserung bzw. Linderung beim Patienten belegen kann. Genau das ist das Ziel der medizinischen Forschung. Wie anders sollte man sich auch darauf verlassen können, beim nächsten Patienten mit dem gleichen Beschwerde- bzw. Krankheitsbild ruhigen Gewissens zum gleichen Mittel bzw. zur gleichen Behandlungsmethode greifen zu können? Dafür bedarf es der wirklichen Kenntnis von Ursache und Wirkung einer bestimmten Behandlung. Reproduzierbarkeit heißt eines der Zauberworte, die für die Feststellung einer Ursache-Wirkungs-Beziehung maßgeblich sind.
Damit sind wir nun auch mitten in der ganz persönlichen Erfahrung. „Mir hat es aber geholfen!“ Das ist sozusagen die auf die individuelle Ebene heruntergebrochene Version von „Wer heilt, hat Recht“. Subjektiv-individuell unbestreitbar (und sicher erfreulich), objektiv jedoch -als Grundlage für eine allgemeine Aussage zur Wirkung eines Mittels oder einer Methode- unbrauchbar, aus den erklärten Gründen. Forscher nennen dies die „anekdotische Evidenz“ und fügen meist hinzu, dass die Mehrzahl von „Anekdoten“ nicht „Daten“ ist. Manche nennen das auch die „n=1-Forschung“, das „n“ bezeichnet in der Wissenschaftssprache die Große der Probandengruppe einer klinischen Untersuchung.
„Wer heilt, hat Recht“ ist also nichts anderes als ein Werbeslogan, dem eigentich sofort die Gegenfrage: „Wo ist der Beweis – für eine Ursache-Wirkungs-Beziehung?“ entgegengehalten werden muss. Je mehr an diesem Scheinargument festgehalten wird, desto kritischer sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, gegenüber der angebotenen Methode bzw. dem angebotenen Mittel sein. So entpuppt sich nun doch ein scheinbar „unschlagbares Argument“ bei näherem Hinsehen als im Grunde inhaltsleer.
Zum Schluss noch etwas zum Nachdenken für alle immer noch von „Wer heilt hat Recht“-Überzeugten:
Würden Sie sich mit einem Impfstoff impfen lassen, der an – sagen wir mal großzügig – zehn Personen ausprobiert wurde und keine von denen dann erkrankt ist? Wieso nicht? Es zählt doch „wer heilt hat Recht“?!?
In der Tat haben wir oft genug erlebt, dass gerade die „Wer heilt…“ Fraktion gleichzeitig in der Pandemie lautstark die Ansicht vertrat, die Zulassung der Covid-Impfstoffe seien doch ein reiner Menschenversuch, völlig unzureichend getestet …
Denkt mal drüber nach.
Wir wünschen Ihnen Gesundheit und dazu kritische Vernunft!
Ihr Susannchen-Team
Für Interessierte zum Weiterlesen (englisch):
„NO! NO! NO! NO! Testimonials are NOT EVIDENCE!“
von Dr. Harriet Hall, die in den USA als „SkepDoc“ so bekannt ist, wie Susannchen es hier gerne sein möchte…