Monokausalität: So einfach ist das alles nicht…
Liebe Leserinnen und Leser,
ist Ihnen der Begriff Monokausalität geläufig? Damit ist gemeint, dass man viele beobachtete Wirkungen auf eine Ursache zurückführt. Das ist oft ein Effekt des sogenannten „schnellen“, intuitiven Denkens, das der Neigung unseres Gehirns folgt, möglichst schnelle und einfache Verknüpfungen herzustellen.
Ja, es ist doch schön, zu glauben, die Welt sei eben doch nicht so komplex, wie dies allseits immer beklagt wird. Einfache Lösungen scheinen toll zu sein, ganz gleich, ob in Politik, Gesellschaft, Kunst, Wissenschaft oder – Gesundheitsfragen. Das Problem dabei ist, dass man ja nicht nur selbst so denkt, sondern auch Angeboten, die genau darauf spekulieren, leicht auf den Leim geht.
Aber Achtung: Eine monokausale Erklärung, also eine, die eine Vielzahl von komplexen Erscheinungen (z.B. solche, die man in einem Begriff wie „Krankheit“ zusammenfasst) auf eine Ursache zurückführen will, ist verdächtig. Wenn es nicht gerade der blau anschwellende und schmerzende Daumen unmittelbar nach dem Treffer mit dem Hammer ist… Für sich betrachtet monokausal, natürlich.
Ein schönes Beispiel für eine multikausale Definition ist dagegen, wie die Weltgesundheitsorganisation den Begriff „Gesundheit“ umschreibt:
„Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Also nicht einfach „Mir tut nichts weh“.
Die vorwissenschaftliche Zeit zeichnete sich dadurch aus, dass mangels Wissensgrundlage monokausale Annahmen nahezu jeder medizinischen Hypothese, jeder Vorstellung davon, was Krankheit sei, zugrunde lagen. Von Krankheitsentstehung und -verlauf wusste man lange, im Grunde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, so gut wie nichts. Von Hippokrates bis zu Rudolf Virchow war die Vier-Säfte-Lehre, die sogenannte Humoralpathologie, hauptsächlich maßgebend, wenn man sich Gedanken über die „Ursache“ von Krankheiten machte. Das Gleichgewicht von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle musste hergestellt werden, koste es, was es wolle – und sei es das Leben des Patienten (Stichwort Aderlass).
Der Anbruch der wissenschaftlichen Medizin Mitte des 19. Jahrhunderts bestand zunächst noch gar nicht in der Entwicklung spezifischer Behandlungsmethoden oder Medikamente. Der Durchbruch war etwas Anderes, Grundlegenderes: Es war die Begründung der Wissenschaft der Ätiologie, der Lehre von Krankheitsursachen und -verläufen.
Robert Remark und Rudolf Virchow legten die Funktion der Zelle als kleinste lebende Einheit des Körpers dar und zeigten auf, dass Störungen von Zellstoffwechsel und -funktionen wesentliche Krankheitsursachen sind. Die Zellularpathologie löste die Humoralpathologie ab – ein wirklicher Paradigmenwechsel, eine Hinwendung zu einer völlig neuen Erkenntniswelt. Die Ätiologie entwickelte sich rasend schnell weiter, bildete neue Zweige aus (sehr schnell durch Ignaz Semmelweis, Robert Koch und andere im Bereich der Infektionslehre, auf dem Gebiet der Immunologie, der Endokrinologie und etlichen anderen) und lieferte eine Vielzahl von Erklärungsmodellen für Krankheiten. Diese sind die Grundlage der wissenschaftlichen Medizin und werden im vieljährigen medizinischen Studium vermittelt. Ohne diese Erklärungsmodelle -die Ursachen von Krankheiten- sind wirksame Behandlungen überhaupt nicht denkbar – das leuchtet ein.
Damit war die Vorstellung der Zurückführung von „Krankheit“ auf „die“ eine Ursache, der „philosophische“ Ansatz, unhaltbar geworden. Genetische Veranlagungen, Schwächung des biologischen Systems durch Vorerkrankungen, Mangelerscheinungen, schleichende Dauerschäden durch falsche Lebensführung, exogene, also von außen einwirkende Faktoren, und die unterschiedlichen Reaktionen des biologischen Organismus darauf – all das erklärt erst im Zusammenspiel das Entstehen und häufig auch den Verlauf einer Krankheit. Und längst nicht alle dieser komplexen Zusammenhänge sind bislang geklärt. Denken Sie nur an die Krebsforschung, von der ja eigentlich überdurchschnittlich viel an die Öffentlichkeit gelangt: Krebs selbst ist ja nicht nur „eine“ Krankheit, Krebs ist „viele“ Krankheiten, wie ein führender Onkologe es formulierte – mit entsprechend vielen ursächlichen Faktoren, über die intensiv geforscht wird.
Wie sieht es aber nun mit den Methoden aus, die von ihren Anhängern als „Alternativmedizin“, von ihren Gegnern als „Pseudomedizin“ bezeichnet werden? Schauen wir einmal näher hin:
- Homöopathie führt alle Krankheiten (eigentlich: Symptome) auf eine „verstimmte geistige Lebenskraft“ zurück, mit einem weiteren Krankheitsbegriff oder gar Krankheitsursachen beschäftigt sie sich nicht.
- Die Verfechter der Schüßler-Salze sehen als einzige Krankheitsursache einen „Mineralstoffmangel in der Zelle“ und wollen ihn durch homöopathische Mittelgaben beseitigen.
- Bachblütentherapie sieht jede Krankheitserscheinung beim Menschen als bedingt durch Persönlichkeitsmerkmale im Sinne von emotionalen Auffälligkeiten eines Persönlichkeitstyps (die es mit Schwingungen von Pflanzen zu „behandeln“ gilt) an.
- Akupunktur nimmt für sich in Anspruch, die angebliche globale Krankheitsursache des nicht richtig fließenden Chi, ebenfalls einer Art imaginärer Lebenskraft, beeinflussen zu können.
- Reiki will ebenfalls eine angebliche universelle Lebensenergie, deren Störung Ursache jeglicher Erkrankung ist, beeinflussen können – interessanterweise durch Zufuhr dieser Energie, während Akupunktur eher auf einem Abfluss oder einer Umleitung einer solchen beruht.
- Vitamintherapien, auch in Form sogenannter orthomolekularer Medizin, nimmt ebenfalls für sich in Anspruch, mit angeblichen Vitaminmangelzuständen den „Stein der Heilweisen“, die zentrale Ursache jeglicher Krankheit, gefunden zu haben.
- Nicht unerwähnt bleiben soll das unsägliche MMS, das Mineral Miracle Supplement, das ja nach Angaben von Bischof Humble auch das Universalmittel schlechthin sein soll – Susannchen hat vor kurzem darüber berichtet.
- Osteopathie sieht in ihrer ursprünglichen Form nach ihrem Begründer A.T. Still ebenfalls nur eine Ursache für menschliches Krankheitsgeschehen: Störungen im Nerven- und Gefäßsystem, die durch einen optimalen Zustand des muskulären Systems und des Skeletts behoben werden können; eine Heilung von Krankheiten „von außen“ lehnte Still ab.
- Die aus der ursprünglichen Osteopathie herausentwickelte craniosacrale Therapie wendet sich noch deutlicher einer rein esoterischen monokausalen Krankheitserklärung zu: Sie will „inhärente Rhythmen des menschlichen Organismus harmonisieren“.
- Besonders schlimm und verwerflich sind die Ansätze, die die Ursache von Krankheiten in der einen oder anderen Weise -monokausal- im Patienten selbst verorten. Die schlimmste, wenn auch keineswegs die einzige dieser „Methoden“ ist die die „Neue Germanische Medizin“, die jede Erkrankung auf fünf selbstdefinierte „biologische Gesetzmäßigkeiten“ zurückführt , wobei z.B. Krebserkrankungen als Folge eines „hochakut-dramatischen und isolativen Konflikterlebnisschocks“gedeutet werden.
Kann fortgesetzt werden.
Sie merken, liebe Leserinnen und Leser, worauf wir hinauswollen: Methoden und Mittel, die ihren eigenen Krankheitsbegriff (wenn sie ihn denn überhaupt definieren) auf einen monokausalen, einen einzelursächlichen Ansatz zurückführen, sind mit der modernen Medizin unvereinbar. Sie sind zudem auch untereinander unvereinbar – denn entweder ist eine monokausale Erklärung richtig oder alle sind falsch. Logisch. Überlegen Sie, was ist wohl wahrscheinlicher: Dass eine von den Vielen der Sechser im Lotto ist (welche?) oder dass alle daneben liegen? Zumal es jede Menge differenzierender Erklärungen ja gibt. Diese Erklärungen aber und die dahinterstehenden Funktionalitäten sind keine Kleinigkeit – dafür gibt es das medizinische Hochschulstudium.
Suchen Sie also nach einem Prüfstein, ob es sich bei diesem oder jenem um eine Pseudomethode handelt: Hier ist einer. Schauen Sie auf den Erklärungsansatz für Krankheiten. Ist er dogmatisch-monokausal, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Pseudomethode sehr, sehr hoch. Und wenn dann noch die Leerformel „ganzheitlich“ dazukommt…
Bleiben Sie gesund – und kritisch!
PS: Heute ein Buchtipp zum Artikel – Über die angesprochenen verschiedenen Denkweisen informiert ebenso fundiert wie verständlich das Buch von Daniel Kahnemann „Schnelles Denken – langsames Denken“ aus dem Jahre 2016, überall erhältlich (ISBN-10: 3328100342, ISBN-13: 978-3328100348).
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