Erstverschlimmerung – ein „homöopathisches Prinzip“?
Zusammenfassung
Die berühmte "Erstverschlimmerung" bei homöopathischer Therapie - Beleg pro Homöopathie oder einfach für ein Fortschreiten der Krankheit? Wie wird das Konzept "Erstverschlimmerung" in der Homöopathie überhaupt begründet? Und ist es überhaupt Bestandteil von Hahnemanns Lehrgebäude? Wir erklären es,
Den Begriff der „Erstverschlimmerung“ im Zusammenhang mit einer homöopathischen „Behandlung“ ist den meisten sicher schon einmal begegnet. Die Erstverschlimmerung sei angeblich ein untrügliches Zeichen dafür, dass die gegebenen Homöopathika „anschlagen“. Wirklich?
Wenn es so einfach wäre …
Gleich zu Anfang ein Einwand aus der Sicht des gesunden Menschenverstandes: kann es nicht schlicht und ergreifend genauso ein Fortschritt der Erkrankung sein, die letztlich ja durch Homöopathie faktisch unbehandelt bleibt? Und damit eher ein Beweis dafür, dass die Globuli oder Tropfen eben nicht anschlagen? Selbstverständlich! Wir sehen hier einfach, was auch geschieht, alles wird so ausgelegt, dass die Homöopathie angeblich Wirkung entfaltet. Egal, ob es einem besser oder schlechter geht.
Auch in diesem Fall ist es aber nützlich, einmal die homöopathische Lehre an sich selbst zu messen. Lässt sich die Erstverschlimmerung schlüssig aus Hahnemanns Lehre selbst begründen? Wir werden sehen.
Tatsächlich kommt in Hahnemanns „Organon“ ein Effekt einer „Erstverschlimmerung“ vor. Aaaber …
Wir müssen kurz ausholen und uns daran erinnern, dass die Heilung laut Hahnemann ja dadurch vorangeht, dass die Mittelgabe eine „Kunstkrankheit“ verursacht, die der originären Krankheit „ähnlich“ ist (symptomatisch schwächer, eben irgendwie eben doch stärker als diese) und diese „verdrängt“. Nebenbei braucht Hahnemann dafür auch noch die stillschweigende Annahme, dass im Menschen keine zwei „ähnliche“ Krankheiten nebeneinander vorhanden sein können … Auch interessant, irgendwie … Dazu erklärt Hahnemann in § 156 Organon:
Indessen giebt es selten ein, auch anscheinend passend gewähltes, homöopathisches Arzneimittel, welches, vorzüglich in zu wenig verkleinerter Gabe, nicht eine, wenigstens kleine, ungewohnte Beschwerde, ein kleines, neues Symptom während seiner Wirkungsdauer bei sehr reizbaren und feinfühlenden Kranken, zuwege bringen sollte, weil es fast unmöglich ist, daß Arznei und Krankheit in ihren Symptomen einander so genau decken sollten, wie zwei Triangel von gleichen Winkeln und gleichen Seilen. Aber diese (im guten Falle) unbedeutende Abweichung, wird von der eignen Kraftthätigkeit (Autocratie) des lebenden Organisms leicht verwischt und Kranken von nicht übermäßiger Zartheit nicht einmal bemerkbar …
Ah ja, die „Differenz“ zwischen den Symptomen, die es zu beseitigen gilt und den Symptomen, die das „selten passend gewählte Mittel“ auslöst, soll also die „Erstverschlimmerung“ verursachen. Jedoch sagt uns Hahnemann auch, dass diese Verschlimmerung so schwach und so kurz sei, dass sie von den allermeisten PatientInnen gar nicht bemerkt werde. Und wieder: interessant. Vor allem mit Blick auf die Homöopathen, die dies bei ihren Erklärungen der Erstverschlimmerung durchaus nicht so sehen, sondern den Effekt als so stark betrachten, dass sie ihre PatientInnen geradezu darauf vorbereiten (und bei der Therapie bei der Stange halten – aka vertrösten) können.
Im Paragrafen 157 setzt Hahnemann noch einen drauf, indem er zugesteht, dass ,,,
… ein homöopathisch gewähltes Heilmittel, seiner Angemessenheit und der Kleinheit der Gabe wegen, … ohne Erregung neuer, bedeutender Beschwerden, die ihm analoge, acute Krankheit ruhig aufhebt und vernichtet, so pflegt es doch (aber ebenfalls nur bei nicht gehörig verkleinerter Gabe) gleich nach der Einnahme – in der ersten, oder den ersten Stunden – eine Art kleiner Verschlimmerung zu bewirken (bei etwas zu großen Gaben aber eine mehrere Stunden dauernde), welche so viel Aehnlichkeit mil der ursprünglicben Krankheit hat, daß sie dem Kranken eine Verschlimmerung seines eignen Uebels zu sein scheint. Sie ist aber in der That nichts anderes, als eine, das ursprüngliche Uebel etwas an Stärke übersteigende, höchst ähnliche Arzneikrankheit.
Hier schiebt er die „Erstverschlimmerung“ auf die „nicht gehörig verkleinerte Gabe“, also auf die Gabe zu niedriger Potenzen. Und wieder sagen wir: Interessant! Aber der gute Samuel fängt seine These gleich selbst wieder ein, indem er die Erstverschlimmerung maximal auf „mehrere Stunden“ beschränkt. Kommt also jemand nach ein paar Tagen zum Homöopathen und klagt über Verschlimmerung nach „Therapiebeginn“, liefert Hahnemann durchaus keine Handhabe, das auf die „Erstverschlimmerung“ zu schieben!
Hahnemann war immer wieder durchaus Realist. Wir glauben, dass er mit diesen Erklärungen nicht eine „Erstverschlimmerung“ als typisch für die Homöopathie einführen, sondern sein Ähnlichkeitsprinzip rechtfertigen wollte. Das haargenau auf ein komplexe „Symptomenbündel“ passende Mittel gibts nach Hahnemann so gut wie nicht, deshalb sah er ein „Gleichheitsprinzip“ auch als verfehlt an. Die Paragrafen 156 und 157 Organon kann man also auch als Rechtfertigung und Erklärung lesen, weshalb er das Ähnlichkeits- und nicht das Gleichheitsprinzip postulierte.
Hahnemann erklärt sogar später (im Paragrafen 161), dass bei der Behandlung chronischer Krankheiten es gar keine Erstverschlimmerung, sondern im Gegenteil allenfalls eine „Letztverschlimmerung“ geben könne:
Erhöhungen der ursprünglichen Symptome der chronischen Krankheit, können dann nur zu Ende solcher Curen zum Vorscheine kommen, wenn die Heilung fast oder gänzlich vollendet ist.
Das leitet er aus seiner Miasmenhypothese ab, die in der Ursache chronischer Krankheiten lange schon vorhanden gewesene „Urübel“ ausmacht, deren Beseitigung eben erst ganz am Ende der Behandlung zu erwarten ist.
Das ist nicht so leicht nachzuvollziehen und wenn, dann nur, wenn man sich einmal in Hahnemanns Gedankengebäude hineinversetzt. Was wir aber mitnehmen können aus diesen Absonderlichkeiten: falsche oder auch nur danebenliegende Mittelgaben können krank machen (Symptome auslösen). Wir kennen das aus der Arzneimittelprüfung.
Löst schon eine wenig „danebenliegende“ Gabe eines nicht genau passenden Homöopathikums etwas aus, was sich als Krankheitssymptome bemerkbar macht, was müsste dann erst geschehen, wenn jemand zu einem völlig falschen Mittel greift?
Das müsste logischerweise ständig zu schweren und schwersten Krankheitssymptomen infolge einer Selbstmedikation mit dem Homöopathikum XYZ – und eben auch bei einem Fehlgriff des/der Therapeut/in – führen. Dass es solche Fehlgriffe gibt, zeigt sich daran, dass die Homöopathen stets davon reden, es „dauere“ eben manchmal, bis man das „richtige Mittel“ gefunden habe. Echt jetzt???
Wenn diese homöopathischen Thesen nur im Ansatz richtig wären, müssten die Einnahme von Homöopathika per Selbstmedikation und der Apothekenvertrieb „over the counter“ sofort untersagt werden – und die Risiken therapeutisch ausgeübter Homöopathie würde wohl keine Berufshaftpflichtversicherung absichern wollen.
Nicht auszudenken, die Homöopathen hätten Recht!
Mehr dazu beim INH:
Keine Nebenwirkungen vs Arzneimittelprüfung – ein Widerspruch par excellence
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