Chronische Krankheiten und die Homöopathie – Die Miasmenlehre
Es war schon eine verflixte Sache. Hahnemann war irritiert. Eigentlich schien alles in Ordnung, er hatte eine Menge Patienten und Schüler, seine „Bibel der Homöopathie“, das „Organon“, war schon in der dritten Auflage erschienen. Aber es war nicht zu leugnen, seine homöopathische Methode zeigte schöne Erfolge bei akuten Erkrankungen, wollte aber bei chronisch kranken Patienten nicht recht anschlagen.
Wieso nicht? Das fragte sich Hahnemann – und das fragen wir uns hier auch einmal. Lag es nicht eigentlich auf der Hand, dass die große Mehrzahl der selbstlimitierenden Erkrankungen solche akuter Art waren? Bei denen also die Wahrscheinlichkeit, dass sie von ganz allein wieder verschwinden, weitaus höher war als bei vielleicht schon langjährig andauernden und faktisch unbehandelt gebliebenen chronischen Krankheiten? Dass also „Erfolge“ der Homöopathie bei akuten Krankheiten ziemlich wahrscheinlich öfter und eher sichtbar wurden als bei Chronikern? Also, wir finden, das ist eine ziemlich logische Erklärung…
Jedoch Hahnemann erkannte abermals nicht die naheliegenden Zusammenhänge, sondern verfiel darauf, der Homöopathie einen gesonderten Unterbau für die Behandlung chronischer Krankheiten zu verschaffen: die Miasmenlehre.
Ein weiteres Hahnemannsches Special
Miasma war ein seinerzeit durchaus gängiger Begriff. Er ist griechischen Ursprungs und bedeutet so viel wie „Verunreinigung“. „Miasmen“ im damaligen Verständnis standen für „unsichtbare“ Krankheitsursachen, die man in den Ausdünstungen von Sümpfen, feuchten Böden oder auch verrottenden Materialien vermutete. Eine uralte Vorstellung eigentlich, die Krankheitsursachen instinktiv mit „Schmutz und Gestank“ in Verbindung brachte.
Hahnemann wurde konkreter. Er postulierte drei „Grundkrankheiten“, die die Ursache aller chronischen Erkrankungen sein sollten: Syphilis, Gonorrhoe (damals Sykosis genannt) und „Psora“. Diese drei „Grundübel“ bezeichnete er insgesamt als „Miasmen“. Der Psora wies Hahnemann dabei die Hauptrolle zu. Psora ist die griechische Bezeichnung für das lateinische Skabies, also die von der Krätzmilbe verursachte Krätzeerkrankung. Und diese drei „Grundübel“, also das „Miasma“, machte er verantwortlich als Ursache aller chronischen Krankheiten:
„… dass chronische Krankheiten mit wenigen Ausnahmen, wahre Abkömmlinge einzig der vielgestaltigen Psora seyen. […], wenn sie nicht zu den beiden venerischen Übeln, der Syphilis und der Sycosis zu zählen sind.“
Hahnemann, Die chronischen Krankheiten (1828)
Es ist interessant zu wissen, dass Hahnemann von gänzlich falschen Annahmen über die Krätze ausging. Es lag nahe, dass er sie als eine Art „Urübel“ ansah. Er glaubte nämlich wie viele seiner Zeitgenossen, dass die Krätzmilbe spontan in der juckenden Haut entsteht (Generatio spontanea). Die sogenannte „Spontanzeugung“ war vom alten Aristoteles bis ins 19. Jahrhundert eine gängige Annahme. Noch 1845, zwei Jahre nach Hahnemanns Tod, schrieb der österreichische Homöopath Franz Puffer im Zusammenhang mit der Miasmenlehre in aller Ausführlichkeit über die Spontanzeugung, die seiner Ansicht nach auch Eingeweidewürmer und Kopfläuse hervorbringt…. ähem. Ihr versteht, warum wir uns heute beim Beitragsbild für Cat-Content entschieden haben…
Obwohl Hahnemann ansonsten durchaus auf der Höhe seiner Zeit war, wusste er wohl nicht, dass zwei Herren aus Italien namens Diacinto Cestoni und Giovan Cosimo Bonomo schon 1687 (!) die Krätzmilbe und ihre unangenehme Tätigkeit genau erforscht und damit die allererste Erklärung einer menschlichen Erkrankung überhaupt geliefert hatten. Bekanntlich bohren diese kleinen Tierchen regelrechte Kanäle durch die Haut und verursachen damit einen entsetzlichen Juckreiz. Auch scheinen weder Hahnemann noch Puffer den Experimenten des Universalgelehrten und Priesters Lazzaro Spalanzani Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, der 1768 bahnbrechende Experimente durchführte, um das Konzept der Spontanzeugung zu widerlegen. Der Galileo-Effekt: die Ärzte schauten damals nicht selbst durch ein Mikroskop und fühlten sich dem aufwachsenden Stand der Biologen weit überlegen. Ähnliches soll es ja noch heute geben…
Die Miasmenlehre in der Praxis
Hahnemann veröffentlichte 1828 sein Buch über die chronischen Krankheiten, mit vielen „Symptomen“ zur Anwendung hochverdünnter Mittel. Wieso viele Symptome? Ging es nicht einfach nur um Krätze und ab und zu eine venerische Krankheit? Oh nein… so einfach hatte Hahnemann es sich nicht gemacht und durfte das auch nicht. Denn dann hätte er ja das wichtige Prinzip der individuellen homöopathischen Behandlung nach dem „Symptomenbild“ beim Patienten und eben nicht nach einer bestimmten Krankheit über Bord werfen müssen. Der Dreh war, dass er sehr wohl individuelle Symptome bei den chronisch Kranken erhob, denn die waren nach seiner Ansicht „abgesonderte Theile eines tief liegenden Ur-Übels, dessen großer Umfang in den von Zeit zu Zeit sich hervorthuenden neuen Zufällen sich zeige“. Gegenstand der Anamnese waren daher diese „abgesonderten Theile“, die sich eben in vielfachen Symptomen zeigen könnten, und nicht eines der drei Grundübel selbst. Damit waren, ungeachtet der drei „Urübel“, die homöopathischen Grundsätze gerettet…
Ab sofort bezog Hahnemann in seine Patienteninterviews die Frage ein, ob der / die PatientIn jemals in seinem / ihrem Leben an Jucken, Ekzem, Ausschlag, Warzen oder egal an welchen Hauterkrankungen gelitten hatte. Falls ja (und das dürfte nicht gerade selten gewesen sein) sah er das als Beleg dafür, dass Psora eine Rolle spielte.
Verneinte jemand, jemals an Juckreiz und Co. gelitten zu haben und war gleichwohl chronisch erkrankt, schloss Hahnemann messerscharf, dass dort eine der Geschlechtskrankheiten (Syphilis oder Gonorrhoe) gewirkt haben müsste. Vorsichtshalber stellte er auch noch die Hypothese auf, dass diese „Urübel“ durchaus auch vererbbar sein konnten (was er darauf stützte, dass er das Vorhandensein der Urübel der „Erbsünde“ zuschrieb). Damit hatte er sich selbst eine breite Palette der „Diagnostik“ von chronischen Krankheiten geschaffen, mit denen er im Grunde alles und jedes erfassen konnte.
Ja, schön… aber was änderte sich denn nun eigentlich?
Eigentlich ging es ja darum, dass die fehlenden Erfolge bei den chronischen Krankheiten Hahnemann sein Versprechen vermiesten, „schnell und dauerhaft“ jede Krankheit mit dem passenden Mittel heilen zu können. Sein Ruf begann unter den Problemen mit den Chronikern zu leiden. Dieses Heilungspostulat modifizierte Hahnemann nun äußerst geschickt. Es etablierte sich der Leitsatz, dass eine schnelle Heilung erwartet werden könne, wenn früh mit der Behandlung begonnen würde und es um so längere Zeit brauche, je später im Verlaufe der Krankheit die homöopathische Behandlung einsetze. Und wenn die Homöopathie mal völlig versagte, war es – gerade bei Chronikern – das allzu festsitzende Miasma oder die vorher stattgefundene unsachgemäße Behandlung durch die „Allopathen“ (heute: ‚Schulmediziner‘), die der Homöopathie die Möglichkeit genommen habe, zu wirken. Alles in allem ein virtuoses System der Absicherung gegen jede Verantwortlichkeit bei Misserfolgen – auch dies eine homöopathische Spezialität.
Und wie sieht das heutzutage aus mit der Miasmenlehre? Wie alles in der praktischen Homöopathie: unterschiedlich. Man trifft auf Therapeuten, die getreu der Hahnemannschen Miasmenlehre die beim einzelnen Patienten „abgesonderten Theile eines tief liegenden Ur-Übels“ aufzufinden suchen, solche, die versuchen, dem Konzept aktuelle Bedeutung beizumessen (in dem sie es z.B. mit der modernen Forschungsrichtung der Epigenetik verknüpfen wollen), und auch solche, denen es mulmig ist bei all den unbewiesenen Annahmen und Spekulationen und die meinen, an der Miasmenlehre könne vielleicht doch nicht festgehalten werden… ohne aber die Lücke zu füllen, die bei einem Fallenlassen des Ganzen im homöopathischen Gebäude entstehen würde.
2004 erschien eine Dissertation einer homöopathischen Ärztin, die mit entwaffnender Offenheit schrieb:
“(…) Hahnemanns drei chronische Krankheiten “Syphilis”, “Sykosis” und “Psora” haben als “miasmatisch” verursachte Krankheiten heute keine Berechtigung mehr. (…) Hahnemanns monokausale Vorstellung von einer Urkrankheit und drei chronischen Miasmen ist demzufolge nicht mehr berechtigt. (…) Hahnemanns monokausales Modell der Entstehung chronischer Krankheiten fordert in großen Teilen aufgegeben zu werden, und durch plurikausale Modelle der modernen Medizintheorie ersetzt zu werden.“
Und dann? Das wäre eine große Axt an die Wurzeln der Homöopathie. Uns ist bislang nicht bekannt geworden, dass man in dieser Richtung eine „Fortentwicklung“ der Homöopathie betreibt…
Lassen wir es bei der so schlichten wie richtigen Erkenntnis bewenden, dass die Homöopathie weder bei akuten noch bei chronischen Erkrankungen spezifisch arzneilich wirksam ist, ob mit oder ohne Miasmenlehre.
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