Pflanzenheilkunde – wie ist sie einzuordnen?
Es ist an der Zeit, dass wir uns einmal näher mit der Phytotherapie, der Pflanzenheilkunde, befassen. Oft genug haben wir sie ja schon erwähnt in unseren Artikeln, als wichtigen Teil der Naturheilkunde, aber auch als die letzte, spezielle der „besonderen Therapierichtungen“ nach dem Arzneimittelgesetz (AMG), die keines wissenschaftlichen Wirkungsnachweises bedürfen, um rechtlich als Arzneimittel zu gelten.
Sicher ist euch aufgefallen, dass wir die Phytotherapie bei unserer Kritik an den „besonderen Therapierichtungen“ immer beiseitegelassen haben. Der Grund dafür ist nicht, dass wir für sie die Privilegien des Arzneimittelgesetzes für gerechtfertigt halten, dazu später mehr. Der Unterschied zwischen Homöopathie und Anthroposophie einerseits und der Phytotherapie andererseits ist aber, dass die ersteren schon von ihren Grundannahmen her Fantastereien darstellen, die ihre medizinische Irrelevanz sozusagen auf den ersten Blick erkennen lassen. Die Phytotherapie ist, wer wollte das bestreiten, dagegen potenziell wirksam, hier geht es um Stoffe und Stoffmengen, die fraglos physiologische (körperliche) Reaktionen auslösen können – ob nun immer zum Segen des Verwenders, lassen wir mal noch dahingestellt.
Immer sanft, gut und natürlich?
Gehen wir mal in der Evolution des Lebens ein gehöriges Stück zurück. Pflanzen sind „stationäre“ Lebewesen, denen als Verteidigungsstrategie deshalb die Flucht und das Verstecken nicht zur Verfügung stehen. Was also tun, um nicht weggefressen zu werden? Richtig, Gift- und Abwehrstoffe entwickeln, die Fressfeinde abschrecken und vergraulen – jedenfalls ab dem zweiten Versuch.
Genau das taten beinahe alle Pflanzen. Das relativiert schon mal das Sanfte und Natürliche bei der Sache ganz erheblich. Aber wieso können wir uns heute so umfassend aus pflanzlicher Nahrung versorgen, mit zunehmender Tendenz? Nun, im Zuge der Kultivierung der Pflanzenwelt („Kulturpflanzen“ hat ja eine Bedeutung) hat der Mensch, soweit möglich, Giftstoffe und sonst Unverträgliches aus den heute im Ernährungsbereich verwendeten Pflanzen herausgezüchtet. Zu unserem Segen! aber auch wir selbst haben evolutionär die Resistenz gegen manchen eher unverträglichen Pflanzenstoff herausgebildet. So können wir bedenkenlos Frischware aus dem Gemüseregal nach Hause tragen und Leckeres daraus zubereiten. Aber wusstet ihr z.B. wirklich, dass grüne Bohnen im Rohzustand nach wie vor Träger von Stoffen sind, die uns ganz erheblich schaden, unter Umständen sogar umbringen können? Wie auch rohe Kartoffeln? Hier empfiehlt sich gründliches Abkochen – und keine Weiterverwendung des Kochwassers.
Thema Heilpflanzen
Aber wir beschäftigen uns ja nicht mit dem Mittagessen, sondern mit der arzneilichen Wirkung von Pflanzen. Dass sich die Menschen in der vorwissenschaftlichen Zeit besonders auf pflanzliche Heilmittel konzentrierten, ist verständlich. Einmal wegen der Vielfalt und der Verfügbarkeit, zum anderen waren sie aber auch ein Sinnbild für Lebenskraft, mit ihrem Aufwachsen, Blühen und oft Überdauern des Winters. Und außerdem hatten viele Pflanzen durch Form, Farbe oder gar traditionelle Namensgebung einen starken Bezug zum „Ähnlichkeitsglauben“, der ja in Hahnemanns Homöopathie noch einmal einen Niederschlag fand.
Nun sind das aber keine Kriterien, nach denen man eine arzneiliche Wirkung erwarten oder prognostizieren könnte. Natürlich schälte sich hier und da heraus, was mehr als einmal gewirkt hatte und wovon man besser die Finger lassen sollte. Aber die alten Aufzeichnungen zur Pflanzenkunde helfen uns heute wenig – nicht nur wegen dieser falschen Auswahlkriterien, sondern auch, weil die Krankheitsbeschreibungen und -bezeichnungen darin überhaupt keinen wirklichen Rückschluss zulassen, was jeweils genau nun behandelt worden ist. Gewiss wird man „Wirkungen“ beobachtet haben, unbestritten, aber diese auf eine spezifische Wirkung der verwendeten Pflanzen hin einzuordnen, gab es damals keine Chance.
Das führt uns zu den „Traditionellen Heilmitteln“, die im Rahmen der Arzneimittelgesetzgebung nochmals besonders privilegiert werden. Aber was heißt „traditionell“? Wenig bis nichts im wissenschaftlichen Sinn. Darauf eine Arzneimitteleigenschaft zu stützen, scheint recht gewagt – es gibt Mittel, die gelten als „Traditionelle Heilmittel“, wenn sie nur nachweislich seit mindestens 30 Jahren tatsächlich angewandt wurden. Das AMG beschränkt allerdings die „Traditionellen Heilmittel“ der Phytotherapie auf geringfügige Gesundheitsstörungen. Prima soweit, nur weshalb man dann die Hintertür der besonderen Therapierichtung sperrangelweit offen hält, das hat uns noch niemand erklären können.
Wo ist denn nun das Problem?
Dass Stoffe, die in Pflanzen synthetisiert werden (ja, die tun das auch, genau wie ein pharmazeutisches Labor, auf chemischem Wege!), ein Potenzial haben können, das wir uns zunutze machen sollten, ist unbestritten. Jetzt allerdings kommt das „Aber“, das uns auch aufzeigen wird, warum die Phytotherapie in den besonderen Therapierichtungen ganz falsch aufgehoben ist:
- Pflanzen und Pflanzenteile sind zunächst einmal ein wildes Gemisch von manchmal hunderten von Substanzen (also das reinste Chemielabor …), von denen nur ganz wenige und manchmal nur eine einzige für die gewünschte Wirkung sorgt. Was bedeutet, dass es ebenso ein Konglomerat von gewünschten und nicht gewünschten Wirkungen gibt, die sich vermutlich in den meisten Fällen „Konkurrenz machen“. Ob das unterm Strich sinnvoll ist?
- Die Qualität und Zusammensetzung von gesammelten und auch geernteten Heilpflanzen (aus gezieltem Anbau) ist von vielen Faktoren wie Boden, Lage, saisonalen Bedingungen wie Wettereinfluss und mehr extrem abhängig. Das setzt sich natürlich ohne Methoden zur Standardisierung und Optimierung der Inhaltsstoffe bis in das so natürlich daherkommende Endprodukt fort.
- Hier wird auch deutlich, weshalb die verbreitete Ansicht unsinnig ist, nur die Verwendung der ganzen Pflanze könne ihr „Potenzial“ richtig nutzen und „chemisch aufbereitete“ Pflanzenextrakte seien abzulehnen.
- Phytotherapie hat ein enormes Potenzial von Wechselwirkungen mit pharmazeutischen Medikamenten (und untereinander). Pflanzliche Wirkstoffe können die Wirkung von Pharmazeutika sowohl abschwächen als auch verstärken (was z.B. bei Kontrazeptiva oder Blutdruckmitteln fatal werden kann). Daher auch der immer wieder zu hörende Hinweis, man möge dem behandelnden Arzt auch die harmlosen Kräuterzubereitungen offenlegen, die man so „nebenbei“ noch nimmt.
Klar, angesichts dessen sehen wir die Phytotherapie zwar in der falschen Reihe zusammen mit Homöopathie und Anthroposophie. Aber Sonderrechte wie die Arzneimitteleigenschaft ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis wollen wir ihr trotzdem nicht zugestehen. Ein weiterer Unterschied ist ja schließlich auch, dass die Phytotherapie nun mal ein direktes Risikopotenzial hat, was man von den beiden anderen Richtungen so nicht sagen kann… Ein fundiertes Zulassungsverfahren für Phytotherapeutika, das Besonderheiten ruhig berücksichtigen kann, halten wir – wie viele pharmazeutische Fachleute – für unumgänglich. Übrigens geraten dabei auch die „Komplexmittel“ der Homöopathie in den Fokus, die oft in Niederpotenzen gleich mehrere Pflanzenwirkstoffe miteinander kombinieren.
Macht man es der Phytotherapie nicht auch damit „zu leicht“, dass sie als besondere Therapierichtung seit 1978 privilegiert ist? Macht es wirklich Sinn, dass man jegliche Mittelchen pflanzlichen Ursprungs, als Auszüge der kompletten Pflanze oder gar als Gemisch mehrerer Pflanzen, ganz ohne Aufwand auf den Markt bringen kann?
Um es klarzustellen: die Analyse von Pflanzenwirkstoffen und die Reduktion auf die gewünschten Wirkstoffe (also bestimmte Molekülstrukturen) und ihre Standardisierung in Arzneimitteln ist definitionsgemäß KEINE Phytotherapie (mehr), sondern Phytopharmazie. Diese Grenze ist in der pharmazeutischen Wissenschaft klar gezogen. Womit dann eben auch diese Pharmazeutika, die auf pflanzlichen Wirkstoffen fußen, dem normalen Arzneimittel-Zulassungsverfahren unterworfen sind.
Homöopathika sind auch dann, wenn sie auf pflanzlichen Ausgangsstoffen beruhen, per Definition nach dem Gesetz weder Phytotherapeutika noch Phytopharmazeutika. Sie sind – Homöopathika, deren Herstellung und Anwendung (einschließlich der Erwartung, dass und wie sie wirken) auf den homöopathischen Grundsätzen beruhen. Dass Hersteller das gern im Nebulösen lassen, ist eine andere Geschichte. Und dass Pflanzenauszüge in Tiefpotenzen, unabhängig von der rechtlichen Einordnung, Pflanzenauszüge bleiben und nicht nur durch ein Etikett zu Wundermitteln werden, die nach homöopathischen Vorstellungen per „geistiger Arzneikraft“ wirken, ist ja wohl auch klar.
Wir empfehlen zu diesem Thema sehr den Podcast „Heilende Pflanzen“ mit Dr. Petra Schling von der Uni Heidelberg in der Reihe „Grams‘ Sprechstunde“. Eine halbe Stunde, die sich lohnt!
Fazit
So einfach ist es also nicht mit der Phytotherapie. Die Illusion von der stets guten Natur ist eben auch hier – eine Illusion. Und mit der Eigenschaft als „besondere Therapierichtung“ macht man es der Phytotherapie wohl doch zu einfach. Von lose verkauftem Kräuterkram aus der Schublade oder auf dem Wochenmarkt sollte man ohnehin die Finger lassen … aber sind schön verpackte Kapseln in Arzneimittel-Anmutung mit allerlei wild zusammengestellten Extrakten aus der „ganzen Pflanze“ oder gar aus mehreren wirklich besser? Jedenfalls sollten kranke Menschen Derartiges nicht konsumieren, ohne den / die behandelnde ÄrztIn darüber zu informieren. Denn deren Hauptrisiko ist das Wechselwirkungspotenzial mit Arzneimitteln.
Dass Pflanzenwirkstoffe oft ein hohes Potenzial haben, uns zu helfen, ist unbestritten. Aber da verlassen wir uns doch lieber auf die pharmazeutischen Produkte, die genau diese Wirkstoffe isolieren, ihre Wirksamkeit optimieren und ihr Nebenwirkungspotenzial minimieren und verlässliche pharmazeutische Arzneimittel daraus herstellen, die strengen Zulassungsregeln unterliegen. Man schätzt ohnehin, dass bis zu 50 Prozent unserer Pharmazeutika auf pflanzlichen Grundstoffen, allerdings oft im molekularen Bereich, beruhen.
Zum Thema beim Informationsnetzwerk Homöopathie:
Homöopathie, Phytotherapie und Komplexmittel
Bildnachweis: Pixabay Lizenz
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