Das sind Typen… Die homöopathische Konstitutionslehre
Bekanntlich ist einer der Punkte, bei denen Homöopathen ganz besonders auf sich halten, die individuelle Therapie. Umfangreiche homöopathische Anamnese, anschließend genaue Mittelfindung des „ächten Heilkünstlers“, des „erfahrenen Homöopathen“ mittels Repertorien. Eine verflixt aufwändige Sache…
Schon einmal haben wir uns damit beschäftigt, dass – entgegen Hahnemanns wirklich ganz eindeutiger Lehre – so mancher Versuch unternommen wurde, dieses aufwändige Procedere zu „verkürzen“. Und zwar am Beispiel der Komplexmittel. Heute ist eine andere Idee dran: die homöopathische Konstitutionslehre.
Was ist denn das nun schon wieder? Nun, jedenfalls alles andere als eine Seltenheit, verpönt zwar bei klassischen und genuinen Homöopathen, aber ansonsten weit verbreitet (wobei man der Vollständigkeit halber ergänzen muss, dass die klassischen Homöopathen auch „Konstitutionsmittel“ kennen, darunter aber etwas anderes verstehen als das, was wir hier betrachten).
Konstitutionslehren sind uralt und gehen bis auf die Antike zurück, die vier Urtypologien kannte. Es gibt reichlich Varianten, bis in die nicht so weit zurückliegende Vergangenheit hinein, wo sie bekannterweise üblen ideologischen Zwecken dienten. All diese Lehren haben eines gemeinsam: sie werden von der heutigen Wissenschaft komplett verworfen. Als Versuche, sich die Welt mal wieder einfach erklärbar zu machen. Ist sie aber nun mal nicht – und der Mensch als Teil dieser Welt eben auch nicht.
Wie gelangte nun diese Typenlehre in die Homöopathie? Vermutlich haben von Anfang an einzelne Homöopathen damit geliebäugelt, sich die Repertorisierung mehr oder weniger zu ersparen. Viele machten auch die Erfahrung, dass sie mit recht wenigen Homöopathika in der Praxis auskamen (weil sie sich nicht streng und „mit gebotenem Fleyße“, wie Hahnemann verlangte, an dessen Vorgaben hielten. Von einer scheinbaren Beobachtung, das habe mit den Konstitutionen der PatientInnen zu tun, die eine bestimmte Mittelwahl irgendwie bevorzuge, war es dann nicht weit zu der Idee, die Sache umzukehren und die Konstitution ihrerseits zum Auswahlkriterium für ein homöopathisches Mittel zu machen.
Im Jahre 1866 (also 23 Jahre nach Hahnemanns Tod) erschien ein Lehrbuch der Homöopathie von einem gewissen Dr. Eduard von Grauvogl (1811 – 1877). Grauvogl gehörte zu den „Konvertiten“, durchweg erfolgreichen Ärzten, die irgendwann komplett auf die Homöopathie umschwenkten. Und wie so viele Konvertiten, war er bei seiner neuen Überzeugung äußerst umtriebig. Nicht nur ist sein schriftstellerisches Werk recht umfangreich, er war auch der erste Homöopath in Finnland und zeitweilig Präsident des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte.
In einem relativ kurzen Abschnitt des sehr umfangreichen „Lehrbuchs“ verbarg sich Grauvogls „Vermächtnis“, das, was von ihm bis heute nachwirkt. Er verfiel darauf (aufgrund „persönlicher Erfahrung“, jede Wette!), dass angeblich bestimmte Merkmale von Personen mit homöopathischen Mitteln korrespondieren. Das verkürzte Verfahren sollte also darin bestehen, statt der umfangreichen Anamnese zur Ermittlung des Symptombildes die „Konstitution“ des / der PatientIn festzustellen und auf dieser Grundlage ein „passendes“ Mittel zu verordnen. Und zwar ungeachtet der spezifischen Beschwerden der Patienten!
Natürlich wurde das Ganze systematisiert, wo kämen wir denn sonst hin. Wir wissen von der Homöopathie selbst, welche Faszination von etwas ausgeht, das eine scheinbare Systematik unterlegt bekommen hat. Und so legte von Grauvogl los: er unterschied zwischen hydrogenoiden, oxygenoiden und carbonitrogenen Patienten (also einen wasserstoff-, einen sauerstoff- und einen kohlenstoffgeprägten Typus). Von Grauvogel unterstellte, dass der jeweilige Typus einen „Überschuss“ der jeweiligen Stoffe aufweise. Fragt uns nicht, wie er darauf gekommen sein könnte…
Wie meist, war das aber nur der Anfang. Mit einiger Begeisterung wurde von Grauvogls Idee aufgenommen und es entstanden – erwartbar – weitere Varianten der Konstitutionslehre. Zu diesen erst nach Grauvogl etablierten Konstitutionen gehört z.B. auch die wohl bekannteste Zuordnung: die Pulsatilla-Konstitution, ursprünglich beschrieben als die von weinerlichen, launenhaften blonden Frauen mit Veranlagung für Krampfadern und Problemen mit der Menstruation, die Frischluft, lauwarmen Tee und Süßigkeiten lieben sowie keine fetten Speisen mögen. Kommt also eine solche Dame in die Ordination, kriegt sie Pulsatilla. Punktum! Dabei ist es egal, ob sie wegen Kopfschmerzen oder Herzrasen oder sonstwas den Therapeuten aufsucht.
Interessant ist, dass Hahnemann – wie auch in anderen Fällen – gar nicht so superkritisch gegenüber seienen eigenen Vorschriften war und selbst seiner Lehre hier und da widersprach. So finden sich bei ihm auch Neigungen zu einer Konstitutionsbetrachtung. In der Reinen Arzneimittellehre schreibt er selbst zur Pulsatilla:
Es wird daher auch der arzneiliche Gebrauch der Pulsatille um desto hülfreicher seyn, wenn in Uebeln, zu denen in Rücksicht der Körperzufälle dieses Kraut passt, zugleich ein schüchternes, weinerliches, zu innerlicher Kränkung und stiller Aergerniss geneigtes, wenigstens mildes und nachgiebiges Gemüth im Kranken zugegen ist (…). Vorzüglich passen daher dazu langsame, phlegmatische Temperamente, dagegen am wenigsten Menschen von schneller Entschliessung und rascher Beweglichkeit, wenn sie auch gutmütig zu seyn scheinen.
Und ob ihr es glaubt oder nicht: Noch vor ein paar Jahren erschien eine Klausuraufgabe im Medizinstudium bei der LMU München, die zum Inhalt hatte, aufgrund einer verbalen Beschreibung den Pulsatilla-Typ zu erkennen und die „richtige“ Verordnung zu benennen. Zur Ehrenrettung der LMU muss allerdings angemerkt werden, dass sie sich inzwischen weitgehend von der Homöopathie in der Lehre und der klinischen Praxis abgewandt hat.
Noch ein Beispiel? Die Natrum-muriaticum-Konstitution bedeutet, dass wir jemanden mit einer hochsensiblen, nachtragenden, geizigen Persönlichkeit vor uns haben, der oder die wegen eines Mangels an mütterlicher Liebe traurig-depressiv gestimmt ist. (Natrum muriaticum ist nichts anderes als Kochsalz, Natriumchlorid, auch hier halten die Homöopathen an überholten lateinischen Bezeichnungen fest – warum? Sucht jemand nach einem solchen Begriff, landet er unweigerlich bei der Homöopathie… .)
Aber was eine Konstitution genau ist, was sie ausmacht und nach welchen Kriterien das „Bild“ einer Konstitution festgelegt wird, darüber sind sich die Homöopathen – wieder einmal – ziemlich uneinig. Es ist versucht worden, aus den Ergebnissen vieler homöopathischer Arzneimittelprüfungen Konstitutionsbilder „herauszudestillieren“. Erfolglos.
Was hätte wohl Hahnemann dazu gesagt? Na ja, zuerst einmal hätte er die Konstitutionshomöopathen wegen der Abweichung von seiner Lehre in Grund und Boden verdammt und mit einem seiner berühmten Zornausbrüche (einschließlich Verbalinjurien) bedacht. Hätte er es bis zu einem sachlichen Einwand geschafft, hätte er wohl zu allererst darauf hingewiesen, dass diese Methode ganz ohne Arzneimittelprüfung arbeitet, was für ihn ein ganz zentraler Punkt seiner Lehre war. Keine Mittel ohne Arzneimittelprüfung! Und zu Recht hätte er eingewendet, dass, gibt man einer gesunden Frau Pulsatilla als Arzneimittelprüfung, nicht zu erwarten stehe, dass sie sich in eine weinerliche, zumal blonde Frau verwandelt. Zu Pulsatilla hat Hahnemann eigene Arzneimittelprüfungen durchgeführt und etliche Symptome gefunden. Eine solche Metamorphose war nicht darunter…
Aber zur Vereinfachung, damit zur Popularisierung der Homöopathie war wohl so ziemlich jedes Mittel recht. Sehen wir es pragmatisch: spezifisch unwirksam ist die Methode so oder so. Aber es ist schon einigermaßen haarsträubend, wie hier Hahnemanns Individualitätsprinzip locker in die Ecke gestellt wird.
Und noch eine Folge hatte die Konstitutionslehre: Nach und nach bildeten sich noch allgemeinere Ideen heraus, und so gibt es heute regelrechte homöopathische „Universalmittel“, sozusagen für und gegen alles, Beispiele sind Sulfur (Schwefel) oder auch Bryonia (Zaunrübe). Diese Mittel werden als „Polychreste“ bezeichnet, was soviel heißt wie „für vieles nützlich“. Und all das ist, nicht zu vergessen, heute weithin geübte homöopathische Praxis. Der gute alte Hahnemann kann einem schon irgendwie leid tun.
Man darf aber nicht übersehen, dass die Therapie auf Basis der Konstitutionslehre beim Patienten gleichwohl den Eindruck einer individuellen Behandlung hinterlassen wird. Sie verordnet bei derselben Krankheit ja auch ganz verschiedene Mittel, nur eben nach Konstitutionstyp und nicht nach Symptomenbild. Genauso kann es passieren, dass der Konstitutionshomöopath ein gleiches Mittel für verschiedene Krankheiten verordnet – wiederum geleitet allein vom Typus.
Was bleibt noch zu sagen? Eigentlich nur noch der bekannte deutsche Universalkommentar: Tja… Und der Hinweis, dass euch auf unserer Seite noch ein paar weitere Beiträge zu homöopathischen „Spezialitäten“ bevorstehen.
Bildnachweise: Gerd Altmann auf Pixabay / v. Grauvogel: gemeinfrei / eigenes Meme