Zuckerkügelchen? Nein danke! – Meine Erfahrungen mit Homöopathie
In ihrer frühen Kindheit erlebte Sibylle Luise Binder eine anthroposophische Hausärztin, die sich der Homöopathie verschrieben hatte. Ihre Erinnerungen daran hat sie uns in diesem Artikel hinterlassen.
Ein kleines Mädchen krümmt sich auf der Küchenbank, von Hustenkrämpfen und Atemnot gepeinigt, in Todesangst.
Das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnungen. Ich war das kleine Mädchen und ich hatte Keuchhusten. Ich weiß gar nicht, wie alt ich damals war, ich weiß nur, es war lange, bevor ich in die Schule kam und mir ging es richtig mies damit.
Mein Verstand verknüpft die Erinnerung an den Keuchhusten mit dem Geruch nach getrocknetem Lavendel und Rosmarin und ich sehe eine große Amethystdruse vor mir, die mich damals immer fasziniert hat. Sie stand im Wartezimmer unserer Hausärztin und die war nicht nur Anthroposophin, sondern auch eine überzeugte Anhängerin der Homöopathie.
Ich vermute, dass ich dem und dem Glauben meiner Mutter, dass Homöopathie „sanfter“ und besser sei als die Schulmedizin zu verdanken habe, dass mein Keuchhusten so fies ausfiel. Wenn es aber nur das gewesen wäre …
Es gibt aber eine Geschichte, die vor meine Geburt zurückreicht. Meine Mutter war mit mir hochschwanger, als mein großer Bruder, damals drei Jahre alt, Bauchschmerzen und Fieber bekam. Es ging ihm ziemlich schlecht, also wurde die Hausärztin – besagte Anthroposophin – gerufen, die irgendwelche Globuli verschrieb. Meine Eltern fütterten die dem Brüderchen, nur ging es dem nicht besser, sondern immer schlechter. Das Fieber stieg, er weinte vor Schmerz und mein Vater hielt’s nicht mehr aus. Er rief ein Taxi, packte Weib und Kind ein und fuhr in die Kinderklinik. Und da standen die Eltern dann am Abend auf dem Gang vor der Ambulanz, als der Professor mit wehendem weißem Mantel an ihnen vorbei rauschte – und keine fünf Minuten später hörten sie ihn innen schreien: „Warum bringen die mir das Kind erst, wenn’s im Sterben liegt?“
Der Blinddarm war durch. Eine Notoperation rettete meinem Bruder das Leben, doch es dauerte vier harte Wochen, bis er wieder einigermaßen fit war und aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Und 1960 durften die Eltern noch nicht bei ihren Kindern bleiben, die Besuchszeiten waren eingeschränkt, der kleine Kerl mit seiner Bauchfellentzündung, von Spritzen und Blutabnahmen geplagt, war größtenteils allein in der Kinderklinik – und ist es sehr verwegen, wenn ich heute sage, dass er bei diesem Krankenhausaufenthalt einen seelischen Knacks bekommen hat?
Warum meine Mutter der Homöopathin danach noch vertraute, ist mir nicht verständlich. Doch nach dem Keuchhusten fing ich mir noch eine Halsentzündung ein, die natürlich mit irgendwelchen Tröpfchen und Globuli behandelt wurde. Meine Selbstheilungskräfte waren anscheinend nicht gut, jedenfalls zog es sich monatelang – und schließlich hatten meine Eltern zu viel und gingen mit mir zu einem Schulmediziner. Der schlug die Hände über dem Kopf zusammen und verschrieb ein Antibiotikum. Die Halsentzündung hat es gepackt, doch ich habe seitdem einen Zacken im EKG, der jeden Arzt irritiert.
Dazu habe ich heute immer wieder Schmerzen in der Hüfte und kann deswegen nicht mehr reiten. Ich habe nämlich einen angeborenen Hüftfehler – eine Hüftpfanne ist zu flach. Der Fehler wurde schon in der Klinik entdeckt, in der ich geboren wurde und man empfahl meiner Mutter, ihn behandeln zu lassen. Tja … das Mittel der Wahl bei ihrer Anthroposophin war ein Sandsack, der in mein Bettchen gelegt wurde und dafür sorgen sollte, dass ich auf der anderen Hüfte lag. Ich hätte aber, so erzählte meine Mutter, schon ganz früh ein großes Talent entwickelt, über den Sandsack zu hüpfen und „falsch“ zu liegen. Dementsprechend tat sich nichts an der Hüfte – und als ich dann fünfjährig beim Schulmediziner landete, war es zu spät, etwas zu machen. So hat man mir später mal prophezeit, dass ich mit 40 eine neue Hüfte brauchen würde. Das ist zum Glück nicht eingetreten – ich bin 58 und immer noch mit dem angeborenen Fehler unterwegs. Aber inzwischen spüre ich ihn sehr deutlich und weiß, dass früher oder später etwas geschehen muss.
Wundert es jemand, dass ich unter diesen Umständen Homöopathie für Pseudo-Medizin und Scharlatanerie halte? Dass es mich wütend macht, dass die Krankenkassen dafür Geld verschwenden, uns aber für Brillen, Zahnersatz und Hautpflege selbst bezahlen lassen?
Homöopathie wirkt nicht – und sie ist keine harmlose Spinnerei, denn sie kann Leben gefährden. Was, wenn meine Eltern bei meinem Bruder damals die Geschichte von der „Erstverschlechterung“ geglaubt hätten? Sie hätten weiter auf die Wirkung der Zuckerkügelchen gewartet – und mein Bruder wäre gestorben. Was wäre aus der Halsentzündung, die ja schon das Herz angegriffen hatte, geworden, wenn der Schulmediziner nicht mit Antibiotika eingegriffen hätte? Ich mag nicht darüber nachdenken, aber ich weiß, warum ich Zuckerkügelchen höchstens als Deko auf der Torte verwende, aber nicht meine, damit Krankheiten behandeln zu können!
Sibylle Luise Binder
Zur Autorin: Sibylle Luise Binder, 1960 geboren, 2020 viel zu früh verstorben, war Journalistin und Autorin. Ihr Lieblingsthema, über das sie viel und ausführlich geschrieben hat, waren Pferde. Sie liebte aber auch Musik (bitte klassisch), Geschichte und Literatur und all‘ das floss in ihre Krimis ein, die nicht immer Geschichten vom Pferd sind.
Wir freuen uns, dass Bylle freundschaftlich mit dem Susannchen-Projekt verbunden war und sind dankbar für ihre wunderbaren Gastbeiträge.
Zum Weiterlesen: Was hat Anthroposophie mit Homöopathie zu tun?
Danke für diesen Beitrag. Wir wissen sehr wohl, dass das Aufwachsen von Kindern in Familien, die der Pseudomedizin zugeneigt sind, ein besonderes Problem darstellt. Oft sind Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg immer wieder Homöopathie und Co. ausgesetzt, ohne eine eigene Handlungsmöglichkeit zu haben. Sie bekommen immer wieder keine, keine adäquate oder eine zu späte medizinische Betreuung und Behandlung. Dabei geht es keineswegs nur um den berühmten „dramatischen Einzelfall“. Es sammelt sich über die Zeit oft viel unnötiges Kinderleid an, das im schlechtesten Falle ein Leben lang prägend bleibt. Das geht vom fehlenden Körpergefühl über Misstrauen gegen alle Arten von medizinischer Behandlung bis zur dauerhaften Konditionierung auf Medikamenteneinnahme. Der Beitrag von Sibylle Binder verdeutlicht dies eindrucksvoll.
Genau deshalb haben wir mit „Susannchen braucht keine Globuli“ ein Projekt gestartet, dessen zentrales Anliegen es ist, gerade Familien so früh wie möglich darüber zu informieren, dass es für ein gesundes Aufwachsen unserer Kleinen keine Pseudomedizin braucht.
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