Wir sind alle vergiftet! – Die Homotoxikologie
Was so alles unter Homöopathie läuft…
Wir haben schon oft angemerkt, dass „Homöopathie“ kein geschützter Begriff ist und sich so allerlei unter diesem Label sammelt, das von Hahnemanns Lehre selbst bei großzügiger Auslegung ziemlich weit entfernt ist. Gleichwohl ist es attraktiv, unter der Flagge „Homöopathie“ zu segeln – nicht nur wegen des nach wie vor positiven Images der Methode, sondern auch wegen der Erleichterungen, die das Registrierungs- und Zulassungsverfahren für homöopathische Mittel aufgrund des „Binnenkonsens“ mit sich bringt. Und im rechtlichen Sinne ist das Homöopathie, was nach „homöopathischen Grundsätzen“ hergestellt wird – also nach dem Prinzip der Potenzierung (Verdünnen und rituelles Verschütteln in Zehner- oder Hunderterschritten) – und das ist auch bei den heute hier in Rede stehenden Mitteln gegeben.
Herrn Reckewegs Idee von der Vergiftung des Körpers
Es gibt eine „Richtung“, die komplett von einer der größeren Firmen der Branche repräsentiert und allgemein auch als Homöopathie wahrgenommen wird, aber von den Basisideen her mit Hahnemanns Grundlagen unvereinbar ist. Das ist die Homotoxikologie, repräsentiert von den Produkten der Firma Heel, bei der bekanntlich der Produktname in der Regel auch im Namen der verschiedenen Präparate enthalten ist. Nicht gerade unbekannt. Hand aufs Herz: Wer hätte gewusst, dass es sich hier gar nicht um Homöopathie nach Hahnemann handelt, selbst bei großzügiger Auslegung nicht?
Der Arzt und Homöopath Hans-Heinrich Reckeweg versuchte sich an einer „Weiterentwicklung“ der Homöopathie. Also einer Art Fortschritt, zwar entgegen Hahnemanns Postulat „Macht’s nach, aber macht’s genau nach!“ – aber immerhin. Fragt sich nur, was bei der Weiterentwicklung von Irrtümern herauskommen kann. Schauen wir mal.
In den 1950er Jahren begann Reckeweg seine Ideen überall zu publizieren. Er ging davon aus, dass der Körper ständig und von allen Seiten mit Giften überschüttet wird. Diese Vergiftungen seien Ursache für alle Krankheiten: Akute Krankheiten seien Ausdruck gerade laufender erfolgreicher Ausscheidungsprozesse, anhaltende chronische Erkrankungen dagegen sollten eine Art Giftstau im Körper bedeuten.
Reckeweg verpasste seiner Methode die Überschrift „Ganzheitsschau einer Synthese der Medizin“. Also wieder ein Versuch, in einem einfachen System von der Krankheitsentstehung bis zur Therapie den Gesamtkomplex Krankheit zu erfassen. Dass das mit den heutigen Kenntnissen von Ätiologie und Pathologie – den Lehren von Krankheitsentstehung und -verlauf, deren eigentliches Merkmal die Multikausalität ist – nicht zusammengehen kann, liegt auf der Hand. Jedoch – die Vereinfachung hat ihren eigenen Reiz, wie wir schon an so manchem Beispiel erfahren konnten.
Auch der Begriff „Toxikologie“ im Namen von Reckewegs Methode geht fehl. Die wissenschaftliche Toxikologie befasst sich mit konkreten nachweisbaren Giftwirkungen, wogegen Reckeweg die „Vergiftung“ als alleinige und ausschließliche Ursache von Krankheiten ansah. Noch heute kann man auf den Seiten der Fa. Heel nachlesen:
„Nach der Homotoxinlehre sind alle jene Vorgänge, Zustandsbilder und Erscheinungen, die wir als Krankheiten bezeichnen, der Ausdruck dessen, dass der Körper mit Giften kämpft und dass er diese Gifte unschädlich machen und ausscheiden will. Entweder gewinnt dabei der Körper oder er verliert den Kampf. Stets aber handelt es sich bei jenen Vorgängen, die wir als Krankheiten bezeichnen, um biologische, d.h. naturgerechte Zweckmäßigkeitsvorgänge, die der Giftabwehr und Entgiftung dienen.“
(Update, Mai 2023: Seit einiger Zeit findet sich diese schöne, die Annahmen Reckewegs durchaus korrekt beschreibende Erklärung nicht mehr auf den Webseiten der Fa. Heel.)
Man hänge sich an den Begriff der Homöopathie, produziere mit deren Herstellungsweise allerlei Mittelchen und – voilà, präsentiert man dem willigen Publikum eine Homöopathie, die mit Homöopathie im Grunde nichts zu tun hat. Ähnlichkeitsprinzip? Brauchen wir nicht… Aber: Wer von der geschätzten Kundschaft weiß das schon? Rechtlich ist Homöopathie ja alles, was nach „homöopathischen Grundsätzen“ hergestellt wird. Und das geschieht auch bei unserem heutigen Thema durchaus.
Immer wieder stößt man auch auf Studien, die angeblich eine Wirkung von Homöopathie belegen sollen, bei denen es aber um die Reckeweg’schen Mittel geht, die etwas ganz anderes sind. Immerhin ist die Fa. Heel nicht gerade unbedeutend und engagiert sich auch in der Forschung – so hat sie z.B. das frühere Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Viadrina (Universität Frankfurt/Oder) mitfinanziert, das unter dem Begriff „Hogwarts an der Oder“ mehr oder weniger bekannt geworden ist. Heel betreibt zudem eine „Heel Akademie“, die sich Kliniken und medizinischen Einrichtungen Seminare und dergleichen zur ihren Produkten andient. Zu den Eigentumsverhältnissen von Heel sei angemerkt, dass die Firma zur Delton AG gehört, deren Alleinaktionär Stefan Quandt ist, der als einer der reichsten Deutschen gilt. Soweit zur armen und erbarmungswürdigen Homöopathie-Szene.
Wissenschaftliche Belege zur Homotoxikologie gibt es so gut wie keine. Reckeweg betonte zwar immer, dass er umfangreich zu seiner Methode geforscht habe, relevante Veröffentlichungen in medizinischen Journalen sucht man allerdings vergeblich. Auf den Webseiten der Fa. Heel finden sich Hinweise auf Studien, die aber kaum valide erscheinen und meist sogar ohne Kontrollgruppe durchgeführt wurden und damit wertlos sind. Interessant ist, wie es das Mittel Vertigoheel immerhin in die AWMF-Leitlinie „Schwindel, akut in der Hausarztpraxis“ geschafft hat: Weil es einem anderen Mittel, mit dem es in einer Studie verglichen wurde, zumindest gleichwertig ist. Nur: das andere Mittel gilt selbst auch nicht als belegt wirksam gegen Schwindel. (Schwindel ist eine der allgemeinsten und schwammigsten Diagnosen überhaupt und generell sehr schwer zu behandeln, wenn keine konkrete organische Ursache festgestellt wird, was meist der Fall ist.) Eine leichte Evidenz hat dieses andere Mittel nur für die spezielle Diagnose Morbus menière, eine besondere Form der Schwindelsymptomatik.
Die Drainage des Herrn Vannier
Wie es scheint, ist die Homotoxikologie also eine recht junge Methode, die sich bemerkenswert etablieren konnte. Schaut man jedoch ein wenig weiter zurück, so findet man interessanterweise, dass Reckeweg keineswegs so originär war, wie es gern propagiert wird.
Die Sache mit den Giftstoffen als beständige Krankheitsursache propagierte schon vor Reckeweg ein gewisser Léon Vannier (1890-1963). Vannier war ein ebenso bekannter wie produktiver Homöopath, der eine eigene Materia medica und eine Menge klassifizierender Schriften veröffentlicht hat. Nebenbei war er homöopathischer Arzt für so manche Prominente, so z.B. für den Komponisten Sergej Prokoview. Natürlich konnte auch er nicht erklären, wie man etwa die Giftstoffe nachweist oder wie es die homöopathischen Mittel hinkriegen sollen, sie zu „entsorgen“ („drainieren“ in Vanniers Formulierung).
Neu ist das alles nicht…
Eigentlich eine uralte Idee aus der vorwissenschaftlichen Krankheitslehre, die bis in die frühe Esoterik zurückreicht. Der Mensch ist voller Giftstoffe, Schlacken, Lasten, Störungen, was nur moderne Surrogate für die Sünden, Lasten oder Komplexe früherer Zeiten sind, er ist also per se Träger von allerhand Elend – und es braucht den Wissenden, den Guru, den Schamanen, der imstande ist, das alles fortzubringen und alles wieder zum Besseren zu wenden. All das steckt letztlich auch in Reckewegs Ideen.
Nur eines steckt nicht drin: irgendeine Plausibilität oder irgendein belastbarer Nachweis für eine Wirkung der so begründeten Methode. Ihr, liebe Leserinnen und Leser, wisst jetzt etwas mehr darüber, wie man es einschätzen muss, wenn man Mitteln wie Vertigoheel, Traumeel oder anderen Dingen mit zwei e und einem l begegnet. Es sind Mittel, die unter der Flagge der Homöopathie segeln, mit ihr aber von den Grundlagen her unvereinbar sind. Was beide Methoden gemeinsam haben, ist aber der fehlende Nachweis einer spezifischen arzneilichen Wirksamkeit.
Bildnachweise: derGestalterCottbus auf Pixabay / Leon Vannier: gemeinfrei
Auch unsere Homöopedia, das wissenschaftlich fundierte Online-Lexikon zur Homöopathie, hält Infos zur Homotoxikologie bereit.
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