Natürlich ist alles Chemie!
Im Pferdestall schnauben Pferde. Meist jedenfalls. Manchmal schnaubt nämlich auch Sibylle Luise Binder, Pferdefrau, Sachbuch-Autorin und Journalistin. Bei ihr gibt es so ein paar Sätze, die garantiert Schnauben auslösen – und einer davon ist „Ich lasse doch keine Chemie in mein Pferd!“
Die böse, böse Chemie
Haben Sie schon einmal versucht, einem Pferd eine Tablette zu füttern?
In einigen Fällen ist es einfach. Mein dicker Schimmel zum Beispiel war so wild auf Äpfel, bei dem musste man nur einen aufschneiden, Tablette reinlegen, Apfel hinhalten – schluck, druck, weg war er. Mitsamt der Tablette.
Aber meine Schimmeline, das auf österreichischen Almen aufgewachsene Naturkind, denkt nicht daran, irgendwelche böse Chemie so einfach zu schlucken! Sie genießt den Apfel, matscht ihn gründlich durch, schmiert Saft und Stückchen auf meinen Pulli und spuckt am Ende die Tablette aus. Tja.
Also gut. Die Tablette wird zerrieben und kommt in ein unwiderstehliches Mash-Süppchen: Weizenkleie, gekochter Leinsamen, Quetschhafer, ein bisschen süße Melasse – also, wenn ich ein Pferd wäre, würde ich das auch mit Wonne fressen.
Während ich das Gourmetmahl fürs Ross zubereite, erscheint Frau P., deren (eindeutig zu dicke) Holsteiner Stute gegenüber von meinem Mädchen steht und der ich eine Fülle an guten Ratschlägen zu verdanken habe – der Frau P., meine ich, nicht ihrer fetten Holsteinerin. Frau P. weiß alles und zwar besser und jetzt sieht sie die Pillenpackung, erfasst sie mit spitzen Fingern und sagt geschockt: „Gibst du ihr etwa das?“
Sie klingt, als wenn ich da eine Packung „Zyankali-Rattengift-Curare – das bewährte Totmach-Mittel für jedes Pferd! Kleine Tablette, große Wirkung!“ liegen hätte. Und bevor ich noch dazu komme, ihr zu versichern, dass ich wirklich und wahrhaftig vorhabe, meinem Hottemax „das“ zu geben, werde ich schon mit der Information erfreut, dass Frau P. weder ihrem Pferd noch ihren Kindern noch ihrem Hund noch ihrem Ehemann (genau in der Reihenfolge) je irgendwelche „Chemie“ füttern würde.
Ich zähle innerlich auf 10, atme tief durch und frage zuckersüß: „Und du selbst?“
„Natürlich nehme ich keine Chemie zu mir!“
Ich glaube, an der Stelle bekam ich schmale Augen – und empfahl der Dame, sie solle sich jetzt in die Ecke setzen und das Atmen einstellen. Sonst nehme sie nämlich Dioxygen – Summenformel O2 – reine, pure, elementare Chemie in Form eines geruch- und farblosen Gases zu sich (Leute, die Wikipedia nicht greifbar haben, nennen das Zeug übrigens „Sauerstoff“).
Auch wenn sie zum Frühstück das von ihr so geliebte „hochenergetisierte“ Wässerchen (mit dem Gedächtnis von Jahrmillionen, das dem Gesäß ganz sicher eine gesunde Gesichtsfarbe gibt – oder so) gegluckert hat, hat sie Chemie reingeschüttet – Wasser hat die chemische Summenformel H2O und ist ebenso eine Verbindung aus chemischen Elementen wie eigentlich alles, was uns umgibt.
Wer sagt, er nehme keine Chemie zu sich, redet – mit Verlaub – Blödsinn. „Chemie“ ist nämlich zunächst einmal das Wort für die Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und der Umwandlung von chemischen Stoffen beschäftigt. Und das, was Frau P. unter „Chemie“ versteht, ist nur ein kleiner Teilbereich der Produkte, die durch Anwendung dieser Wissenschaft entstehen. Die wird aber auch von der Natur angewandt – täglich, millionenfach. Alles, was da kreucht, fleucht, wächst, gedeiht und wieder vergeht, ist „Chemie“!
Wenn wir nun aber einmal ein wenig näher auf das eingehen, was Frau P. „Chemie“ nennt – also zum Beispiel im Labor zusammengerührte Medikamente –, stoßen wir nicht auf den Quell allen Übels, sondern sehr oft auf Mutter Natur, die oh-so-sanfte, oh-so-gute (glaubt Frau P.).
Nehmen Sie Aspirin als Paradebeispiel. Eindeutig „böse Chemie“, nicht? Als überzeugter Anhänger von Homöopathie oder Naturheilkunde (wobei das definitiv _nicht_ dasselbe ist) würden Sie sowas nie schlucken oder gar ihrem Pferd, Kind, Hund oder Mann geben? Weil es eben „pure Chemie“ ist?
So sorry, aber Acetylsalicylsäure – das ist das, was hinter dem Markennamen „Aspirin“ steckt – hat eine lange Geschichte – und geht auf Weidenrinde zurück. Schon Hippocrates und die alten Kelten und Germanen wussten, dass Weidenrinde eine Arznei ist. Sie kochten sie aus und gewannen Extrakte daraus. Weidenrinde enthält nämlich Salicin, einen (chemischen) Verwandten der Salicylsäure, der im Körper zu ebendieser umgebaut wird.
Weil es nun aber recht aufwändig ist, Weidenrinde auszukochen und weil das Extrakt daraus scheußlich schmeckt (und auch gern mal die Schleimhäute verätzt), hat man schon Ende des 19. Jahrhunderts das Stöffchen synthetisiert, von Beistoffen befreit, in der Dosierung standardisierbar gemacht und als Medikament angeboten. Und damit war es „Chemie“ – jedenfalls in den Augen von Leuten wie Madame P.
Dabei ist Aspirin nur ein Mittel von vielen, hinter dem eine natürliche Substanz steht. Einige von den Wurmkuren, mit denen wir unsere Pferde beglücken – hoffentlich tun das auch die Esoterik- und Schwurbelfreunde, denn ein verwurmtes Pferd in einer Herde verteilt seine Würmer großzügig auf alle – basieren auf Substanzen, die von Pilzen produziert werden. Hinter Antibiotika stecken teilweise Schimmelpilze; Herzmedikamente wie Digitalis und Belladonna finden Sie im Wald – Digitalis ist nämlich eine Substanz, die der Fingerhut produziert; Belladonna ist in der Tollkirsche enthalten.
Und wenn wir schon dabei sind: Liebe Mitreiter und Pferdefreunde, Mutter Natur ist keinesfalls nur liebevoll und gut zu ihren Geschöpfen! Sie hat auch ein paar ganz fiese Tricks darauf und es ist darum euer Job, auf eure Hottemäxchen aufzupassen, so dass sie weder Eibe (schon eine Handvoll Nadeln können tödlich sein), Goldregen, Maiglöckchen, Jakobskreuzkraut und was dergleichen Gifte mehr sind, fressen. Machen Sie sich diesbezüglich schlau und seien Sie sich bewusst, dass in Wald und Feld jede Menge bitterböse Chemie wächst, die Ihr Ross und Sie locker umbringen kann!
Ansonsten wünschen die Schimmeline und ich Ihnen und Ihrem Pferd, dass Ihr im Notfall wirksame Medikamente mit möglichst wenigen Nebenwirkungen bekommt – mögen sie nun sehr naturbelassen oder hochkonzentriert aus dem Labor sein. Wichtig ist, dass es hilft – und wenn ich ehrlich sein soll: Wenn ich die Wahl habe, ob aus meiner als bakteriell diagnostizierten Mittelohrentzündung zum Beispiel eine Gehirnhautentzündung erwächst, die mich nachher eingeschränkt zurücklässt oder ob ich infolge der Bekämpfung einer Lungenentzündung eine Woche Durchfall wegen eines Antibiotikums habe – ich nehme bitteschön das Antibiotikum! Und ebenso bekäme mein Pferd in so einem Fall immer das Antibiotikum. Ich will’s nämlich noch lange fröhlich über die Koppel hüpfen sehen.
Sibylle Luise Binder, geboren 1960, viel zu früh verstorben 2020, war Reiterin, Journalistin und Autorin, unter anderem hat sie eine ganze Reihe Pferdebücher für den Kosmos-Verlag geschrieben. Bei Kosmos erschien im August 2019 auch ihr letztes Buch: „Trakehner“ – die Geschichte der Flucht 1944/45 als spannender Roman.
Zum Weiterlesen: Für mich bitte nur ohne Chemie!
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