„Impfdiktatur“ im Stall? Ja, bitte!
Wer hat eigentlich den Spruch von der „Rossnatur“ der Pferde aufgebracht? Sibylle Luise Binder, Pferdefrau, Sachbuch-Autorin, Journalistin und Gastautorin bei Susannchen, ist überzeugt: Der, der damit angefangen hat, hatte keine Ahnung. Pferde sind nämlich sehr empfindlich – und darum kommt jeder Gesundheitsknall, der in der Humanmedizin umgeht, früher oder später auch im Stall an.
Max B. ist auf dem elterlichen Bauernhof aufgewachsen, hat nach der mittleren Reife in einem großen Gestüt Pferdewirt Fachrichtung Zucht und Haltung gelernt, den Meister gemacht und vor einigen Jahren den Hof seiner Eltern übernommen und zum Pensionsstall mit 44 modernen Boxen umgebaut.
Eigentlich läuft sein Laden gut. Alle Boxen sind belegt, die meisten Pferdebesitzer bei Max sind zufrieden, er hat eine kleine, aber feine Stutenherde aufgebaut, die ihm in diesem Frühjahr vier ebenso niedliche wie vielversprechende Fohlen geschenkt hat. Alles paletti – könnte man meinen. Und dass sich da in einer Ecke des Stalls ein paar Unzufriedene gefunden haben – Max hat’s bisher unter „allen Menschen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann“ verbucht.
Doch die Tage hat eine Dame, die gleich zwei Pferde in der Ecke stehen hat, eine Stallversammlung einberufen. Netterweise hat sie Max dazu eingeladen und bei der Gelegenheit wieder einmal bewiesen, dass sie alles weiß – und zwar besser. Obgleich sie dereinst Einzelhandelskauffrau gelernt hat, scheint ihr in den letzten sechs Jahren als Mutter zweier Knaben und Hausfrau weitreichende medizinische Kompetenz zugefallen zu sein – meint sie jedenfalls. Darum hört sie neuerdings nicht mehr auf den Tierarzt, sondern bildet sich ihre Meinung im Internet. Youtube macht’s möglich – denkt sie.
Deswegen nun die Stallversammlung. Frau P. hat nämlich ihren Einstellvertrag gelesen und dabei festgestellt, dass Max auf seinem Hof eine „Impfdiktatur“ ausgerufen hat, der sie sich nicht länger beugen will.
Max macht nämlich zur Bedingung, dass alle bei ihm eingestellten Pferde nicht nur gegen Tetanus und Influenza geimpft sind, sondern auch gegen Herpes.
Das sieht Frau P. nicht ein. Sie hat ja schließlich auch ihre Kinder nicht impfen lassen, dieweil – so hat sie auf Youtube und im Waldorfkindergarten gelernt – das Überstehen gewisser Kinderkrankheiten zum „Reifeprozess“ eines Kindes gehört. Und dass manche Mediziner behaupten, Masern könnten zum Tod führen (und ein paar kennen sogar Fälle, in denen genau das passiert ist!) – kann man ignorieren. Findet jedenfalls Frau P.
Und schließlich weiß man doch, dass „Schulmediziner“ Knechte der Pharmamafia sind und sich an Impfungen ihre Porsches verdienen! Da ist zum Beispiel die berühmte MMR (Masern, Mumps, Röteln) Dreifachimpfung. An der verdient der Doc laut Gebührenordnung sage und schreibe € 9,74.
Da wünscht sich der/die Dr.med. wahrscheinlich, dass er/sie sich noch drei zusätzliche Buchstaben angelacht hätte: nämlich ein „vet“ hinter dem „med“. Ein Tierarzt darf nämlich für eine Impfung den dreifachen Satz verlangen – und da kommen beim Pferd € 13,47 heraus. Und weil Veterinäre darauf bestehen, vor Impfungen eine Untersuchung zu machen, kommen da bei den von Max B. vorgeschriebenen drei Impfungen plus Untersuchung schon mal 100 Euro zusammen.
Frau P. hat keine Lust mehr, das zu bezahlen, weil sie in den 20 Jahren, seit sie mit dem Reiten angefangen hat, noch nie einen Fall von Influenza oder Tetanus gesehen hat. Und die Impfung gegen den Equinen Herpes Virus ist ja sowieso der reine Besch…! Frau P. hat nämlich gehört, dass auch geimpfte Pferde Herpes bekommen können! Wozu dann also impfen lassen?
Frau P. schaut Max erwartungsvoll an – und meint, man müsste einmal darüber abstimmen, ob man die Einstellverträge nicht ändern müsste.
„Impfdiktator“ Max besteht aber darauf, vor einer Abstimmung etwas zum Thema zu sagen und fängt mit der Tetanusimpfung an.
Tetanus ist Wundstarrkrampf und wird durch das Bakterium Clostridium tetani ausgelöst. Das Bakterium hält sich besonders gerne in Erde auf und ist dadurch praktisch überall. Und ihm reicht eine kleine Verletzung – ein Kratzer, eine Schürfwunde, ein Insektenstich – um in den Körper einzudringen. Hat es das erst geschafft, können Sie Ihr Pferd abschreiben – Tetanus verläuft üblicherweise tödlich. Und wer je erlebt hat, wie jämmerlich Pferde an Tetanus sterben, lässt gerne impfen!
Aber selbst wenn er’s nicht gerne macht, kommt er nicht drum herum. Die Impfung ist nämlich die einzige Möglichkeit, Tetanus zu bekämpfen – und darum gilt es als Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, nicht gegen Tetanus impfen zu lassen.
Kommen wir zur equinen Influenza. Da gibt’s mehrere Erreger und eine gute Nachricht: Die sind zwar alle durch Tröpfcheninfektion sehr ansteckend, aber ein einigermaßen gesundes Pferd übersteht eine Influenza. Es kann nur sein, dass es sich dabei einen chronischen Husten oder eine andere Atemwegserkrankung einfängt.
Auch bei Influenza gilt: Die Impfung ist die einzige Möglichkeit, die Krankheit zu bekämpfen – und sollte einem das nicht € 13,47 wert sein?
Wer auf einem Turnier starten will, muss übrigens gegen Influenza impfen lassen. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) schreibt vor, dass nur Pferde, die alle sechs Monate gegen Influenza geimpft worden sind, an Turnieren teilnehmen dürfen. Die Begründung ist einfach: Die Impfung ist nach derzeitigem Stand der Wissenschaft die einzige Möglichkeit, Infektion, Erkrankung und Ausbreitung der Influenza zu verhindern.
Damit wären wir übrigens schon beim Equinen Herpes Virus (EHV). Der tritt in fünf verschiedenen Formen auf – und es gibt bisher leider nur Impfstoffe gegen EHV1 und EHV4. EHV1 ist der, der bei Stuten im letzten Drittel der Trächtigkeit Fehlgeburten auslöst. Außerdem kann es bei allen Typen zu Nervenerkrankungen und Lähmungserscheinungen bis zum Tod kommen.
Und ja, Frau P. hat recht: Die EHV-Impfung kann eine Erkrankung nicht verhindern. Aber zum einen stecken geimpfte Pferde keine anderen mehr an und zum anderen verläuft bei ihnen eine Erkrankung erfahrungsgemäß leichter. Und wenn Pferdebesitzer konsequent gegen EHV impfen lassen würden, gäbe es vermutlich bald keine Erkrankungen mehr.
Wie war das nun mit Max‘ „Impfdiktatur“? Würden Sie immer noch dagegen stimmen? Ich nicht. Meine Pferde bekamen nämlich üblicherweise nicht nur die Schüsse gegen Tetanus, Influenza und den EHV, sondern obendrauf auch noch einen gegen Hautpilze. Die schwirren in jedem Stall herum und sind keine Frage der Hygiene. Dafür aber spielt bei einer Erkrankung das Immunsystem des Pferdes eine Rolle. Je angeschlagener es ist, desto höher die Gefahr einer Pilzinfektion. Und nun zeigen Sie mir bitte ein deutsches Reitpferd – ob nun Freizeitjuckler oder Sportcrack – dessen Immunsystem 150 %ig in Ordnung ist! Dagegen spricht, dass sehr, sehr viele Pferde Stress haben – durch Umzüge, Turniereinsätze, Wechsel im Beritt, Langeweile im Stall und weiß-was-noch. Hier zeigt sich nämlich wieder einmal, dass Pferde eben keine Rossnatur haben.
Darum verlangt Max Impfungen. Und darum habe ich meine Pferde immer impfen lassen. Das Resultat war und ist übrigens: Mein erstes Pferd wurde 29 Jahre alt und bin damit noch am Morgen vor seinem Tod im Gelände bummeln gewesen. Leider bekam sie dann aber in der schwülen Nacht eine Kolik – und den Transport in die Klinik hätte die alte Dame wohl nicht überstanden. Darum ist sie mit dem Kopf in meinem Schoss eingeschlafen.
Nummer Zwei lag – 24jährig – eines Morgens tot in seiner Box. Die Obduktion ergab einen Herzschlag und dass der Junge die ganze Zeit einen Herzfehler gehabt hatte. Der dürfte der Grund gewesen sein, warum er zum Beispiel im Sommer bei Hitze eher „faul“ war. Aber darin begegneten wir uns – ich schwitze auch nicht gerne, darum haben wir’s im Sommer immer gemütlich angehen lassen.
Nummer Drei lebt noch. Er kam sechsjährig zu mir und hatte da schon mehr Turnierkilometer auf dem Tacho als mancher 15jährige. Bei mir bekam er keine zusätzlichen ab, aber das konnte leider nicht verhindern, dass er Arthrose entwickelte. Darum wurde er mit 19 in Pension geschickt – und jetzt ist er 28, vergnügt sich mit seinem besten Freund auf der Rentnerkoppel und kommt dank einer täglichen Portion Brennessel und bei Wetterwechsel einem Tütchen Buta ganz gut mit seiner Arthrose zurecht.
Nummer Vier schließlich ist 16, quitschfidel und mit klarem Kopf und klaren Beinen unterwegs. Ich hoffe, dass das noch lange so bleibt – und darum werde ich auch sie, wie schon ihre gesammelten Vorgänger, immer regelmäßig impfen und entwurmen lassen.
Sibylle Luise Binder, geboren 1960, viel zu früh verstorben 2020, ist Reiterin, Journalistin und Autorin, unter anderem hat sie eine ganze Reihe Pferdebücher für den Kosmos-Verlag geschrieben. Bei Kosmos ist im August 2019 auch ihr letztes Buch erscheinen: „Trakehner“ – die Geschichte der Flucht 1944/45 als spannender Roman.
Dr.med.vet. Kerstin Oberbeck war für die fachliche Beratung zuständig. Dr. Oberbeck ist Oberärztin der Pferdeklinik Dr. Pfister in Bilsen.
Bildnachweis: Privat für das INH