Die „deutsche Akupunktur“? Was ist denn das nun wieder?
Länger war das „Baunscheidtieren“, das man gelegentlich als „deutsche Akupunktur“ bezeichnet, recht unbekannt. Heute taucht die Methode durchaus oft wieder im Behandlungsprogramm von Heilpraktikern auf. Worum handelt es sich dabei?
Ein gewisser Herr Carl Baunscheidt, seines Zeichens Mechaniker zu Bonn und medizinischer Laie, hatte beobachtet, dass nach Bienen- oder auch Mückenstichen eine lokale vorübergehende Besserung von rheumatischen Beschwerden eintrat. (Das mag temporär und in Einzelfällen beobachtet werden – seit 1986 gibt es in Deutschland auch den Begriff der „Apitherapie“ und einen entsprechenden Verband, der im Rahmen von „biologischen“ Therapien Bienengift gegen arthritische Beschwerden und sogar gegen Multiple Sklerose propagiert. An einem Wirksamkeitsnachweis für eine therapeutische Anwendung fehlt es jedoch. [1]).
Als offenbar äußerst praktisch veranlagter Mensch kam Baunscheidt nun auf die Idee, dass sich so ein Effekt aufgrund eines einzelnen Pieksers doch vervielfältigen lassen müsse – nach dem bekannten Motto „viel hilft viel“.
Seine handwerklichen Fähigkeiten nutzend, konstruierte er demgemäß einen „Stechapparat“, der dazu diente, Nadeln in den Körper des Patienten „einzuschnellen“. Dieses schöne Gerät nannte er den „Lebenswecker“.
Zwar begann Baunscheidt mit einer „trockenen Methode“, aber sehr schnell folgte das geheimnisvolle Baunscheidtöl, mit dem die gestochenen Stellen eingerieben werden sollten. Es verursachte Jucken, Brennen, auch Fieber, offensichtliche lokale Entzündungen und – auch Todesfälle [2] (wohl durch Blutvergiftungen). Baunscheidt hielt sein Rezept stets unter Verschluss, betonte aber die „Natürlichkeit“ der Inhaltsstoffe. Eingeweiht in sein Rezept war nur ein gewisser Dr. Schauenburg aus Moers, der ihn tatkräftig unterstützte.
Ganz geheim geblieben ist das Rezept – Baunscheidt warnte ständig vor „Nachahmung“ – allerdings doch nicht. Es sind später sogar mehrere Rezepturen bekannt geworden, die alle eines gemeinsam haben: den Bestandteil Crotonöl (Oleum Crotonis, Oleum Tiglii, aus dem Samen des Krotonbaumes). Ausgerechnet … Dieser schöne Stoff hat leider, wie man heute weiß, nicht nur sehr stark hautreizende und entzündungsfördernde Eigenschaften, sondern ist tumorpromovierend, was bedeutet, dass er die Gefahr der Entstehung von Tumoren bei Kontakt mit krebserregenden Stoffen enorm fördert, ohne selbst direkt krebserregend zu sein…
Siehe da: Schnell nach der Vorstellung des „Baunscheidtierens“ wurden Berichte über „Sekundenheilungen“ verschiedenster Art kolportiert. Und so etwas bleibt nie ohne Echo.
Baunscheidt und sein Partner waren offenbar geschickte Geschäftsleute. Die berühmten „zahlreichen Dankschreiben“ brachten sie auf die Idee, eine Zeitschrift herauszugeben, der sie den sinnigen Namen „Die Mücke“ gaben. Neben dem werbewirksamen Abdruck von Dankschreiben erweiterte jede Ausgabe den Katalog der Krankheiten und Beschwernisse, für die das Baunscheidtieren geeignet sein sollte. Und so – man glaubt es kaum (oder eben doch) – kam es tatsächlich zu einem weltweiten Boom, einem regelrechten Baunscheidt-Hype.
Und das kostete Baunscheidt weidlich aus. Schon 1865 war in der „Mücke“ zu lesen:
„Kühn schwingt sich auch unser Lebenswecker empor von der undankbaren Erde zu den mit den Wolken kosenden höchsten Gebirgsgipfeln. Er hat sich schon betheiligt an einer Expedition zur Besteigung des Chimborazo, welchen Humboldt bis 18.120 Fuß erreichte.“
Äh, ja. Baunscheidt exportierte nach China (wo man angeblich einen Choleraausbruch mit höchsten Erfolgsraten behandelte, was an die Berichte über Hahnemanns Erfolge beim Choleraausbruch in Leipzig erinnert), „nach Batavia (dem heutigen Indonesien) Neuseeland, Madagaskar, Australien usw.“. Und das entsprach wohl den Tatsachen… Nicht unerwähnt sei, dass dem Lebenswecker samt seiner geheimnisvollen Tinktur der wohl größte Erfolg im Ausland in den deutschstämmigen US-Kolonien in und um Cincinnati (Bundesstaat Ohio) beschieden war.
Die Heilungsberichte in der „Mücke“ nahmen einen geradezu beängstigenden Umfang an. Ganz zu schweigen von der immer länger werdenden Liste der Indikationen: Baunscheidtieren wurde als „Mittel für jede Krankheit“ offeriert (Ausnahme: Kinder unter zwei Jahren, die sollten nicht gepiekt, sondern nur um den Bauchnabel herum berührt werden) – wir wissen heute, was das heißt. Nämlich so viel wie „Mittel für Nichts“. Allheilmittel gibt es nicht, werden solche angepriesen, ist dies ein recht zuverlässiger Indikator für Scharlatanerie. Gleichwohl: 1861 berichtete Baunscheidt unter anderem über Heilungen bei Tobsucht (158 Fälle), Rippenfellentzündung (185), Hygroma cystum patellae (Zyste auf der Rückseite der Kniescheibe, 187), Typhus (197), Flechten (199), Augenstar (202), Schwerhörigkeit (241) und beispielsweise auch bei solchen Preziosen wie Haarausfall und „zwölfjährigem Durchfall“ (in „Die Mücke“ Heft 9/10, S. 86).
Irgendwie irre – aber was unterscheidet diese Angaben denn eigentlich von den „Erfolgen“, die heute aus der Pseudomedizin berichtet werden? Eigentlich wenig bis nichts – der Grad der fehlenden Evidenz (und der Unwahrscheinlichkeit) ist jedenfalls nicht anders. Aber dass Baunscheidt tatsächlich Effekte, wenn auch sicher keine spezifischen (ausgenommen unerwünschte) erzielte, dürfte durchaus außer Zweifel stehen. Auch die heute berichteten Effekte bei Homöopathie und Akupunktur beispielsweise gibt es ja. Aber damals wie heute haben die Erklärungen für diese Effekte nichts mit der gehypten Methode zu tun.
Dieser spezielle Fall mag uns zum Lächeln veranlassen. Jedoch sollten wir nicht vergessen, dass die gleichen Wahrnehmungsmechanismen, die damals den „Baunscheidt-Hype“ befeuerten, nach wie vor im Bewusstsein vieler, wenn nicht der meisten Menschen lebendig sind. Es ist nun einmal nicht einfach, das disziplinierte, strenge Denken im Alltag anzuwenden, ständig die Frage „Wo ist der Beweis?“ parat zu haben – menschlich. Deshalb braucht es noch viel Aufklärung, um den Sinn und Zweck von Wissenschaftlichkeit und Evidenz deutlicher zu machen. Und dabei hilft es auch manchmal, so eine Geschichte zu erzählen wie diese hier…
Wir haben hier also ein Beispiel mehr, was so ein Hype auf medizinischem Sektor erreichen kann, wenn er den Zeitgeist trifft und gut vermarktet wird. Natürlich klang der hochschäumende Baunscheidt-Hype auch wieder ab – aber zu Ende ist die Geschichte deshalb noch lange nicht. Denn auch hier kam mal wieder zusammen, was eigentlich nicht zusammen gehört…
Schon 1849 kam ein Herr Wutzer (nach Diekhöfer 1978) auf den Gedanken, es handele sich hier doch wohl um „eine neue Art der Acupunktur“. Baunscheidt sah sich in seiner Ehre getroffen und widersprach dem heftig (er wollte natürlich kein Nachahmer sein), so zum Beispiel in der „Mücke“, wo er die „Acupunktur“ als etwas gegenüber seiner Methode „Gewöhnliches“ bezeichnete. In der Tat hat er selbst nie Punktlokalisationen vorgeschrieben. Aber aus der Nummer kam Baunscheidt nicht mehr raus… . Und so erschienen dann tatsächlich auch irgendwann Veröffentlichungen, wo – ähnlich Akupunkturtafeln – „Baunscheidtsche Punkte“ explizit als „Haupteinstichstellen“ angegeben wurden.
Als die Akupunktur-Welle des 20. Jahrhunderts gerade auf einem Höhepunkt war (obwohl sie in der Wissenschaft ab der Zeit massiv an Kredit verlor, siehe die Akupunktur-Artikel auf unserer Seite), trat ein Dr. Dosch mit der folgenden Ansicht an die Öffentlichkeit (Dosch 1978); er war ein großer Befürworter der „Neuraltherapie nach Huneke“ (die ja auch mit „Störfeldern“ arbeitet, deren Behandlung Fernwirkungen auf Krankheitsherde haben soll) und scheute sich nicht vor Querverbindungen:
„Wenn schon ein einzelner Nadelstich solche weitreichenden Reaktionen auslöst, wieviel mehr muss das dann für die multiplen (bis 1800 und mehr!) Einstiche des „Lebensweckers“ zutreffen?“ (Wir sehen hier den Fehlschluss, dass eine Ausgangshypothese, auf die eine Folgehypothese aufgebaut wird, unhinterfragt als richtig angenommen wird.)
Er beruft sich dabei auf einen Herrn Pischinger (Pischinger 1975), der seinerseits ein Vertreter des Gedankens war, es müsse eine Art Umstimmungsenergie in den Organismus „hineingetragen“ werden, zur „Restitution der spezifischen, eventuell organgebundenen Funktionen an den erkrankten Puncta majoris reactionis führen, natürlich soweit dies anatomisch möglich ist“. Man merke auf: hier kommen die „Reaktionspunkte“ ins Spiel. Und hier schließt sich nun der Kreis von Baunscheidts Ideen, die wohl dem Gedanken einer „Reiztherapie“ am nächsten kamen, über die „Umstimmungsenergie“, die Neuraltherapie bis hin zur Akupunktur und ihren Punkten – alles stützt sich gegenseitig, jeder kann sich das für ihn Genehme heraussuchen, nur die Stütze von außen, die wissenschaftliche Basis, die fehlt. Und ist es nicht eine großartige Idee, all die Unsicherheiten in Sachen Meridiane und Punkte sozusagen mit einem Großangriff „nach Baunscheidt“ zu erledigen (irgendwas Richtiges wird man schon treffen) und damit gleich beide Methoden (und womöglich die Neuraltherapie noch mit) glänzend erstrahlen zu lassen?
Und so wundert es nicht, dass heute das Baunscheidtieren bei nicht wenigen Heilpraktikern zum Standardrepertoire gehört – übrigens auch mit weiterentwickelten Varianten des „Lebensweckers“, in Form von Nadelrollen oder -kissen für eine effektive Applizierung der Einstiche, aber auch in der „klassischen“ Form – und hoffentlich nicht mehr mit Krotonöl… Gelegentlich findet man das Ganze tatsächlich als „deutsche Akupunktur“ bezeichnet.
Es ist und bleibt aber eine unspezifische und eben auch undefinierte Methode, die sich mal als Akupunkturvariante, mal als „Reiztherapie“ versteht. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Baunscheidtieren als ja invasive, verletzende Therapie (auch nach Desinfekton des Behandlungsareals) Risiken birgt – die bei einer nicht nachweislich wirksamen Methode auch in geringem Umfang nicht zu tolerieren sind.
Was wir hier aber eigentlich zeigen wollten, ist hauptsächlich, wie es immer wieder in der Medizin zu Hypes kommt, die einen gewaltigen Nachhall, aber keine Grundlage haben. Auch die Neuzeit ist davor nicht gefeit. Keine Methode hat Kredit vor den Augen der Evidenzbasierten Medizin, weil sie alt ist, einmal sehr populär war, sie von Autoritäten gelobt oder gar propagiert wird und dergleichen mehr. Auch nicht, wenn sie plötzlich wieder aus der Mottenkiste der Medizingeschichte auftaucht und sich z.B. in der Heilpraktikerszene verbreitet. Es zählt nur eines: Die Antwort auf die Frage: „Wo ist der Beweis“?
Und um für die Baunscheidt-Methode diese Frage, wie es sich bei uns gehört, jenseits des Historisch-Kuriosen auch zu beantworten: Die medizinische Datenbank PubMed/NCBI listet genau eine Studie zu „Baunscheidtism“ – und das ist eine medizinhistorische Arbeit aus dem Jahre 1989.
[1] http://prev.dailyherald.com/story/?id=266654&src=120
[2] Maschka nach Diekhöfer 1978
Referenzen:
Diekhöfer, K., Heilpraktikermethoden in der Schulmedizin – ein literar historischer Beitrag zum Baunscheidtismus; Rheinisches Ärzteblatt 12, 445; (1978)
Pischinger, A., Das System der Grundregulation. Heidelberg 1975
Dosch, P., Lehrbuch der Neuraltherapie nach Huneke. 6. Aufl., Heidelberg 1975
Prokop / Dotzauer, Die Akupunktur, Stuttgart/New York: Fischer 1979
Bildnachweise:
Beitragsbild: Skt_Johann für Susannchen braucht keine Globuli (dankeschön!)
Abb. 1 und 2: aus Spennemann, Dirk. (2007). A Baunscheidt Homeopathic Medicine Kit in the Jindera Pioneer Museum. 10.13140/RG.2.1.1308.6883
Abb. 3 und 4: Aus Prokop / Dotzauer aaO
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