Apfel, Nuss und Aprikosenkern… wie bitte? Das ominöse „Vitamin B 17“
Pseudomedizin ist ein weites Feld. Ganz aktuell macht eine Produktwarnung der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) online die Runde. Dabei wird vor bestimmten Chargen des Produkts „Gesund & Leben – Bio-Bittere Aprikosenkerne“ gewarnt. Grund sei Gesundheitsschädlichkeit wegen eines „überhöhten Gehalts an Blausäure-Cyanwasserstoff“.
Susannchen schüttelt darüber den Kopf. Weil sie nicht versteht, wie man auf die Idee kommen kann, Aprikosenkerne zu essen. Haben wir denn nicht alle schon als Kinder gelernt, dass man die Kerne von Steinobst nicht herunterschlucken darf? Und das hat seine Gründe. Aber – in Reform-, Bio- und Naturkostläden, vor Ort oder online, begegnen uns Tüten und Päckchen mit Aprikosenkernen … Was soll das also?
„Überhöhter Gehalt“ – klar ist, dass jeder einzelne Aprikosenkern den potenziellen Giftstoff enthält. Der Inhaltsstoff ist übrigens keineswegs der von der AGES angesprochene „Blausäure-Cyanwasserstoff“ (der Bindestrich ist überflüssig, beides sind Bezeichnungen für „Blausäure“, HCN), sondern eine Vorstufe, das sogenannte Amygdalin. Die Reaktion mit Wasser und einem im menschlichen Körper vorhandenen Enzymgemisch spaltet vom Amygdalin nach dem Verzehr dann reine Blausäure ab. Dazu bedarf es gar nicht des (wohl kaum wohlschmeckenden) „Kauens“ der Kerne, die meisten Vergiftungen kommen durch die Abspaltung der Blausäure im Darm zustande.
Wer tut so etwas freiwillig und warum? Nun, das Amygdalin geistert schon lange unter dem reinen Fantasienamen „Vitamin B 17“ durch die pseudomedizinische Szene. Verrückterweise glaubte ein gewisser Dr. Krebs (sic!) in den USA der 1920er Jahre, einem Krebstherapeutikum beim Experimentieren mit Aprikosenkernen zur Geschmacksverbesserung von billigem Whisky (!) auf die Spur gekommen zu sein. Offenbar unausrottbar, was da losgetreten wurde – natürlich gibt es bei Google zum entsprechenden Suchbegriff seitenlang Anleitungen zur Selbstvergiftung! Dieses ominöse „Vitamin B 17“ wurde und wird als wirksam gegen Krebserkrankungen beworben – die scheußlichste Form pseudomedizinischer Quacksalberei überhaupt. Nachweislich hat das Zeug keinerlei therapeutische Wirkung bei Krebserkrankungen! Und es hat mit der chemischen Struktur und der Wirkweise von Vitaminen im Körper nicht das Geringste zu tun.
Aber aufgrund der nicht totzukriegenden Propaganda für diesen blanken Unsinn kommt es immer wieder vor, dass sich Patienten, die sich verständlicherweise an jedes Heilsversprechen klammern, sich schwere Blausäurevergiftungen zuziehen. Auch Todesfälle sind schon bekannt geworden. Hier wird also etwas beworben, dass einerseits keine Wirkung hat und andererseits ein außergewöhnliches Schadenspotenzial in sich birgt! Was soll man dazu sagen? Das ist doch wohl kaum noch zu unterbieten… .
In Deutschland gibt es klare behördliche Aussagen zu Amygdalin (das auch gelegentlich als reines Produkt oder als Teil von „Arzneimitteln“ angeboten wurde) bzw. zum Konsum von Aprikosenkernen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat Amygdalin als bedenklich eingestuft. Von der Anwendung amygdalin-haltiger Produkte und Mittel raten die Behörden entschieden ab.
Als Arzneimittel zugelassen werden kann Amygdalin durch die Einstufung des BfArM nicht. Der Vertrieb als solches ist also illegal. Geschäftemacher sind deshalb sozusagen als „Ersatz“ auf den Vertrieb von Aprikosenkernen als „Nahrungsergänzungsmittel“ ausgewichen und reiten damit – wie auch bei dem österreichischen Fall – auch noch auf der Natürlichkeits- und Bio-Welle. Uns sind „Empfehlungen“ auch von „Ausübenden der Heilkunde“ bekannt, Aprikosenkerne in mehr als bedenklicher Dosis gegen Tumorerkrankungen einzusetzen. Selbst zur „Vorbeugung“, was teilweise die recht große Verbreitung erklärt. Es gab auch schon Fälle, wo wegen einer „Amygdalintherapie“ jede Hilfe der wissenschaftlichen Medizin zu spät kam…
Das Bundesamt für Risikobewertung warnt ausdrücklich vor dem Verzehr von mehr als ein bis zwei Kernen pro Tag – bei Erwachsenen! Was die Hälfte dessen ist, was die Packungsaufschrift bei „Gesund & Leben“ ausweist… Zu empfehlen ist selbst das nicht – warum auch. Man sollte so etwas überhaupt nicht im Haus haben, allein schon wegen der Gefahr, dass Kinder die Kerne als „Knabberzeug“ missverstehen.
Und so gesehen ist die Warnung aus Österreich tatsächlich zwar richtig und wichtig, aber letztlich allzu relativierend. Und die „Warnung“ auf der Packung zeigt nichts anderes als die Absurdität der ganzen Aprikosenkerngeschichte. Es gibt keinen Anlass, Aprikosenkerne aus irgendeinem Grund zu sich zu nehmen! Bitte, auch in Österreich: Finger weg von dem Zeug! Immer!
Detailinformationen:
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Susannchens Tipp zu Weihnachten: Die süßen Mandeln, die gern auch mal als Weihnachtsleckerei den Weg auf den Gabenteller finden, sind weitestgehend ungefährlich, sollten aber auch nicht in Unmengen genossen werden. Die problematischen Stoffe wurden schon lange durch Züchtung aus den süßen Mandeln entfernt. Das Verbacken im Stollen oder Kuchen zerstört die letzten potenziell schädlichen Inhaltsstoffe. Ist mal eine dabei, die scheußlich bitter-sauer schmeckt: Ausspucken und den Mund ausspülen!
Update, 05.12.2018:
Uns haben eine Reihe von Anfragen erreicht, was von „Persipan“ zu halten sei, dem „Marzipan-Ersatz“, der vor allem in Produkten wie z.B. Dominosteinen verarbeitet wird. Persipan stammt in der Tat teilweise aus Aprikosenkernen, auch Pfirsichkerne werden mit verarbeitet, oft ist ein kleiner Teil Süßmandeln enthalten. Die Obstkerne sind aber auf chemischem Wege „entbittert“, ein lange bekanntes Verfahren, das auch bei bestimmten Getreidearten (z.B. Dinkel) vor der Weiterverarbeitung angewandt wird. Persipan ist deshalb – so auch nach dem Urteil der Stiftung Warentest – unbedenklich.
Eine schöne Adventszeit mit leckeren und unschädlichen Kleinigkeiten wünscht
das Susannchen-Team!
Bildnachweise: AGES (www.ages.at) / Gesund & Leben via AGES
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