Die Hottemäxchen und der Placebo-Effekt
Sibylle Luise Binder, Autorin mehrerer Bücher und vieler Artikel über das Verhalten von Pferden, kriegt die Krise, wenn ihr wieder einmal jemand erzählt, dass Homöopathie bei Pferden „wirke“. Bei denen könne es doch kein Placebo-Effekt sein – oder?
Darf ich Ihnen eine Geschichte vom Pferd erzählen? Das Ross, um das es darin geht, hieß Hans, gehörte dem pensionierten Lehrer Wilhelm von Osten und lebte mit ihm in Berlin. Im Sommer 1904 schafften Hans und sein Herr, dass ihre Story „viral“ wurde – sie kam sogar auf die Titelseite der New York Times.
Hans konnte nämlich rechnen – und bitte nicht nur ein wenig! Er konnte Wurzeln ziehen, er konnte schwierige Formeln aufdröseln. Außerdem konnte er die Uhr lesen und den Wochentag angeben. Dabei benutzte er seine Vorderhufe: Mit dem einen klopfte er Einerstellen, mit dem anderen die Zehner.
Beschiss? Kann gar nicht sein? Das sagten die Fachleute damals zuerst alle. Und dann gingen sie es testen – und Hans führte ihnen seine Fähigkeiten vor. Ob sein Herr dabei war oder nicht, ob er auf dem vertrauten Hof vor seinem Stall stand oder anderswo. Die Laien staunten, die Fachleute wunderten sich – und schließlich kam jemand auf die Idee, Hans die Augen zu verbinden. Und siehe, siehe: Wenn Hans nichts sehen konnte, konnte er auch nicht mehr rechnen, lesen oder sonst etwas.
Er war nämlich keine Intelligenzbestie, sondern ein ganz normales Pferd. Aber als solches hatte er ein paar Fähigkeiten, die für Menschen kaum vorstellbar waren – angefangen davon, dass er fast in einem 360°-Winkel um sich herum sah und dass er Bewegungen sehen konnte, die zu schnell waren als dass ein Mensch sie wahrnehmen könnte.
Pferde sind wahre Genies in Sachen „Beobachtung“ – und um das zu erfassen und zu erklären, müssen wir ein wenig in ihre Entwicklungsgeschichte. Die Equiden sind eine sehr, sehr alte Art. Sie streiften schon – damals ungefähr in der Größe eines Fuchses – durch die Urwälder des Eozän (vor ungefähr 55 Mio Jahren), als von Humanoiden noch lange nicht die Rede sein konnte.
Als dann bei zunehmender Erderwärmung die großen Wälder verschwanden, mussten die Equiden auf die Steppe umziehen – und da hatten sie ein Problem: Sie schmeckten zu gut und sie konnten sich nicht mehr, wie einst im Wald, vor ihren Fressfeinden verstecken. Also mussten sie sich eine andere Taktik zur Feindvermeidung ausdenken und fanden sie in der Kombination zweiter Strategien: Teamwork und Flucht.
Ergo schlossen sie sich zu Herden zusammen. Das ermöglichte ihnen, den Wachdienst aufzuteilen und dadurch rechtzeitig abzuhauen, wenn jemand auftauchte, der Appetit auf Pferd hatte. Im Lauf der Jahrtausende verfeinerten die Pferde vor allem ihr Teamwork. Sie entwickelten die Fähigkeit, nicht nur die feinsten Signale ihrer Kameraden zu sehen, sondern lernten außerdem auch „Fremdsprachen“ – die Körpersprache der Fressfeinde.
Damit sind wir nun wieder beim schlauen Hans und endlich auch dem Placebo-Effekt im Stall gelandet.
Unsere Hauspferde haben leider alles andere als eine „Rossnatur“. Sie werden von vielen kleinen Malaisen geplagt. So schätzen Tierärzte zum Beispiel, dass 80 % aller Reitpferde schon mal ein Magengeschwür hatten. Und wer ein Pferd hat, weiß, wie oft er ein Hüstelchen kuriert; ein wenig Bauchweh weg longiert und kleinere Wunden pflegt. Und weil man an Pferden dauernd herumdoktert, gibt’s in den meisten Ställen auch einen Medikamentenbestand, mit dem man eine halbe Pferdeklinik bestücken könnte.
Allerdings vermute ich, dass in Pferdekliniken nicht so viel Zuckerkügelchen, homöopathische Tröpfchen, Fläschchen mit „Rescue“-Dingens, Bachblüten-Extrakt und Schüssler-Salze wie in den Ställen zu finden sind. Reiter(innen) scheinen für die Verführungen der sogenannten „Alternativ-Medizin“ besonders anfällig zu sein – und so wird einem schon mal erklärt, dass man ein psychisch schwer angeschlagenes Korrekturpferd mit Globuli neu motivieren könne. Wagt man dann anzumerken, dass man nicht an Homöopathie glaubt, kommt unter Garantie: „Aber bei meinem Pferd hat’s geholfen!“ Und bei einem Pferd könne schließlich kein Placebo-Effekt auftreten – oder?
Ja, genau das: Oder! Wie wir festgestellt haben: Pferde nehmen sogar sehr subtile Signale von ihren „Herdengenossen“ – und es ist zu vermuten, dass sie ihre Menschen als solche sehen – wahr und reagieren entsprechend. Das ist ein Faktor, der sie für den Effekt prädestiniert, der „Placebo by proxy“ genannt wird – was man im speziellen Fall auch als „Übertragung von Glauben“ nennen könnte. Frauchen ist felsenfest davon überzeugt, dass die Zuckerkügelchen, die sie eben auf der Pferdezunge deponiert hat, ganz wirkungsvoll sind und helfen. Und Pferd fängt die Signale auf – und „glaubt“ dann auch an die Medizin.
Und dafür, dass die Nicht-Medizin beim Pferd dann doch „wirkt“, gibt es noch einen Grund: Pferde haben erstaunliche Selbstheilungskräfte. Das merkt man vor allem bei den allfälligen Magengeschwüren. Ganz viele Pferde zeigen da nämlich keine großen Symptome – und irgendwann sind sie auch unbehandelt wieder gesund.
Wer das weiß, kann sich den Besuch in der Apotheke und die Ausgaben für Zuckerkügelchen und homöopathischen Tropfen sparen. Bei kleineren Wehwehchen und während der nervigen Wartezeit auf den Tierarzt kann man sich und dem Vierbeiner auch mit „Hausmitteln“ – bei einer Kolik ein wenig Bauchmassage, Führen, eindecken und warmhalten; Kühlen bei einem angedotzten, dicken Bein – und Zuwendung helfen. Bleiben Sie dabei, reden Sie Ihrem Rösschen gut zu und vertrauen Sie auf den Tierarzt – das ist in den meisten Fällen die halbe Miete.
Zur Autorin: Sibylle Luise Binder, 1960 geboren, 2020 viel zu früh verstorben, war Journalistin und Autorin. Ihr Lieblingsthema, über das sie viel und ausführlich geschrieben hat, waren Pferde. Sie liebte aber auch Musik (bitte klassisch), Geschichte und Literatur und all‘ das floss in ihre Krimis ein, die nicht immer Geschichten vom Pferd sind.
Wir freuen uns, dass Bylle freundschaftlich mit dem Susannchen-Projekt verbunden war und sind dankbar für ihre wunderbaren Gastbeiträge.
Danke für diese wunderbare Illustration des Placebo-by-proxy-Effekts! Ja, nach „Mir hats aber geholfen“ ist „Bei Kindern und Tieren hilft es doch, das kann doch kein Placebo sein“ nach wie vor der zweithäufigste Einwand gegen die Homöopathiekritik. Wenn wir es recht bedenken, begegnen wir ihr jeden Tag… Nach diesem schönen Beitrag wird es vielleicht besser!
Bildnachweise: Eigenes Meme / UE für das Susannchen-Projekt
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