Plazentaglobuli – im Ernst?
Liebe Leserinnen und Leser,
wir werfen einmal mehr einen Blick auf die Hebammenszene – nicht den Teil, den wir bewundern und schätzen, sondern den Teil, der leider sehr viel zur Fehlaufklärung junger Mütter und Familien beiträgt.
Zu solcher Fehlaufklärung gehört auch die „Werbung“ für die Nutzung der Plazenta für „Gesundheitszwecke“, insbesondere für die Herstellung individueller Globuli. Das ist leider völlig ernst gemeint und hat durchaus Stimmen im Chor des pseudomedizinischen Unsinns. Beispielsweise in Geburtsvorbereitungskursen, wie mehrfach an uns herangetragen wurde.
Was z.B. diese Seite hier deutlich zeigt.
Produkte aus Plazentagewebe? Ja. Gibt es. Kann man sich sogar herstellen lassen. Wofür? Nun – eigentlich für so ziemlich alles, wie der verlinkte Beitrag ja ausführt. Jedoch wird dort auch frank und frei erklärt, dass es sich bei den „Anwendungshinweisen“ nicht einmal um in homöopathischen Arzneimittelprüfungen festgestellte Symptombilder handelt, sondern um in der „Literatur“ hier und da vorkommende – sprich zusammenfantasierte.
Mal unter dem Aspekt der Heilung durch Nosoden per isopathischem Prinzip (Gleiches heile Gleiches) betrachtet – Plazentagewebe ist doch nicht pathologisch, rührt doch nicht von einer krankhaften Veränderung her. Damit kann es doch nach isopathischer (oder wahlweise auch homöopathischer) Sichtweise doch gar keinen therapeutischen Nutzen gegen „irgendwas“ haben?
Gehen wir aber ruhig noch auf die homöopathische Anwendung von Plazentagewebe ein. Mal ganz abgesehen vom Begriff der Nosoden (das sind ursprünglich homöopathische Mittel aus Krankheitserregern, heute allgemein ein Begriff für die Verwendung organischen Gewebes als Grundstoff) den Hahnemann gar nicht kannte, ja ablehnte, weil er das „isopathische“ Prinzip für unvereinbar mit seinem Simileprinzip ansah. Dessen aber völlig ungeachtet – man höre und staune – es gab und gibt tatsächlich homöopathische Arzneimittelprüfungen für diesen Stoff. Wie nicht anders zu erwarten, fallen diese weitgehend unterschiedlich aus, was ja in sich schon ein Beleg für die absolute Beliebigkeit der ganzen Sache ist.
Als Kostprobe hier nur einmal eine Charakterisierung aus einer Arzneimittelprüfung mit Plazenta, ein „Symptombild“, das ein (männlicher!) Prüfer berichtet hat:
„Lösung aus der Sehnsucht nach der perfekten und idealen Harmonie mit den Eltern, mit dem Partner, mit der Freundin führt dann zu mehr Autonomiegefühl und zu einem Entschluß den eigenen Weg zu gehen.“
„Findet die Lebens- und Arbeitsweise seiner Eltern im Gegensatz zu seinem Empfinden vor der Prüfung, als absolut nicht mehr nachahmenswert.“
Aha. Das ist also eine Symptombeschreibung, die als Grundlage einer Arzneimitteltherapie mit Plazentaglobuli dienen soll… Daraus wird dann für die Repertorien, also das Kompendium, in dem man das richtige Mittel für eine Patienten finden soll, Folgendes abgeleitet:
„Wirkungsbereich: Pflege, Ablösung, Kinder, Ohren, Hals, Larynx, Darm, Genitalien, Erschöpfung.
Gemüt/Lebenssituation: Kinder, die Fürsorge brauchen oder verlangen (…) bei überbehüteten Kindern (…). Massive Ärgerlichkeit, Wut und viel Streit mit der Mutter (…) Erschöpfung durch zu viel Fürsorge“.
Schlicht gesagt: Wir haben hier einen derart verworrenen und haarsträubenden Unsinn vor uns, dass sich einem buchstäblich die Haare sträuben. Zumal es hier ja gar nicht um Krankheitssymptome geht, die Hahnemann als Voraussetzung für eine Heilung der „verstimmten Lebenskraft“ des Erkrankten voraussetzte.
Glücklicherweise! Denn was würde es bedeuten, wenn in Arzneimittelprüfungen Krankheitssymptome für Plazentagewebe festgestellt würden? Es würde nach dem Ähnlichkeitsprinzip bedeuten, dass die Plazenta während der Schwangerschaft das ungeborene Kind entsprechend erkranken lassen müsste! (Was sich zwanglos auf alle Nosoden aus gesundem Körpergewebe erweitern lässt.) Sollte es wirklich möglich sein, dass Patienten, denen dies einmal richtig erläutert und erklärt wird, noch auf weitere „Behandlung“ Wert legen? Aber man weiß ja nie.
Als Fazit können wir hier jedenfalls festhalten, dass Therapien mit Plazentagewebe, ob isopathisch „einfach so“ angewendet oder „homöopathisch“ nach „Arzneimittelprüfungen“, barer Unsinn, Fantasieprodukte ohne jede nachvollziehbare Grundlage sind. Und dass Menschen, die auch noch als Angehörige von Heilberufen so etwas propagieren, sich damit in hohem Maße disqualifizieren, wenn nicht schuldig machen. Das Ganze ist im günstigsten Falle einmal mehr Produkt einer Gedankenwelt, die die Natur völlig überhöht, sie allein mit den Attributen gut, sanft und natürlich identifiziert und ihr ein auf den Menschen und sein Wohlbefinden hin zentriertes Handeln unterstellt. Man nennt diese Einschätzung den „naturalistischen Fehlschluss“ – der nur in einer entweder mystisch geprägten oder aber der wirklichen Natur eher fernstehenden Lebenswelt so entstehen kann. Offenbar existiert heutzutage eine Kombination aus beiden Aspekten. Aber möglicherweise tun wir der Sache mit diesen Deutungsversuchen sogar noch zu viel der Ehre an.
Die Beeinflussung junger Mütter mit diesem Unsinn halten wir für unverantwortlich. Hier wird wieder einmal der Grundstein für eine Geneigtheit zu pseudomedizinischem Unsinn gelegt, der später vielleicht lebenslang anhält und die ganze Familie mit einbezieht. Hebammen wie auch Anbieter von Plazentaprodukten isopathischer oder homöopathischer „Art“ sollten sich das vor Augen halten, aber das ist wohl ein vergeblicher Wunsch. Die Propaganda für Plazentanosoden verzichtet zudem auf jegliche nachvollziehbare innere Logik – wir drücken es hier einmal mit der gebotenen Höflichkeit aus. Bitte melden Sie, liebe Followerinnen und Follower, sich deutlich zu Wort, wenn Sie in Ihrem Umkreis jemand hören, der „auf Plazenta schwört“.
Dass der blinde „Glaube“ an die „natürlichen Kräfte der Plazenta“ durchaus schweren Schaden verursachen kann, erfahren wir in diesem Beitrag, bei dem uns die Haare zu Berge stehen – und der uns (leider) vollkommen bestätigt in dem, was wir oben ausgeführt haben.
Zum tieferen Verständnis der hier dargestellten Überlegungen empfehlen wir auf der Webseite des INH den Beitrag „Homöopathische Impfungen und Nosoden“
Bild von Françoise GARRANGER auf Pixabay
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